Über viele Jahrhunderte ist der Westerwald und seine Ortschaften von der Landwirtschaft, den Handwerksberufen und vom Bergbau geprägt. Sie verschaffen den meisten ein bescheidenes Auskommen. Ab dem 19. Jahrhundert lassen sich auch einige Industriebetriebe, wie beispielsweise die Papierfabrik Hedwigsthal, in der hiesigen Gegend nieder. Die Arbeit reicht aber für die stark ansteigende Bevölkerungszahl nicht mehr aus, sodas viele Landbewohner mit der aufkommenden Industrialisierung ins Ruhrgebiet ziehen, dem damaligen Zentrum der Schwerindustrie. Die verwandschaftlichen Verbindungen meiner Familie nach Bochum oder Essen zeugen davon.
Ich persönlich habe von der landwirtschaftlichen Tätigkeit der Familie meiner Großmutter und den Schmiedekünsten meines Großvaters und seiner Vorfahren nur noch wenig mitbekommen. Mein Opa hatte bereits 1968 seine selbstständige Arbeit als Schmied und Schlosser beendet. An seine kleine Werkstatt in ihrem Wohnhaus in der Gartenstraße erinnere ich mich aber sehr wohl. Zudem stammten diverse Heizungsverkleidungen, Geländer, ja sogar Kerzenleuchter, die im Haus überall zu finden waren, aus seiner Hand.
Von den Arbeiten auf dem „Sannersch“ Hof entsinne ich mich der Kartoffelernten im Herbst, an der die ganze Familie teilnahm und dem Bruder meiner Großmutter zur Hand ging.
Forst- und Landwirtschaft
Der Schäfer Hermann
Heu wenden am „Mooracker“
Am sogenannten „Mooracker“, ein Flurstück in der Nähe der Hölzjes Mühle, besitzen die „Sannersch“ drei Wiesen, auf denen das Grün für die Heuernte wächst. Nach dem Schnitt muß das frischgemähte Gras zum Trocknen gewendet werden, eine Aufgabe, die oftmals den Frauen des Hofs überlassen wird. Auch meine Urgroßmutter Kalin macht sich zum „Wennen“ über Holzbach und Bahngleise auf den Weg zu dem Grundstück. Aus Sorge, daß sie wegen des schlechten Gehörs beim Überqueren der Gleise einen heranfahrenden Zug nicht wahrnehmen würde, wird sie in der Abenddämmerung von einem Familienmitglied abgeholt.
Unfall beim Kartoffel stecken
Vermutlich in den 1940er Jahren ereignet sich ein Unglücksfall beim Kartoffel stecken auf dem Flurstück „Im Weidchen“. Wahrscheinlich führt mein Urgroßvater Heinrich Deneu den Pflug und meine Urgroßmutter Kalin und meine Oma stecken die vorgekeimten Kartoffeln in die Furche. Plötzlich reißen sich die Ochsen los und steuern auf das „Sannersch Kalin“ zu, die die Warnrufe der Anwesenden wegen ihres schlechten Gehörs nicht wahrnimmt. Sie kann den Tieren nicht mehr ausweichen und wird schwer an Fuß und Kopf verletzt.
Heuernte in Breitscheid
Bergbau
Ein jeder von uns hat den Förderturm der Grube Georg vor Augen, wenn er an Bergbau im Westerwald denkt. Doch es existierte nicht nur das Bergwerk bei Willroth, sondern eine Vielzahl an kleinen und größeren Zechen durchzog unseren Landstrich. Um 1929 schufteten rund 170 Bergleute in den bei Reichenstein gelegenen Stollen. Die Grube mit dem Namen „Reichensteiner Berg“ förderte neben Eisenerz auch andere Gesteine, wie Spateneisenstein, Bleierze, Kupferkies und Zinkblende.
Die Eisenerzgrube Reichenstein und seine Geschichte
Für meinen historischen Rückblick greife ich auf eine Abhandlung des aus Raubach stammenden Heimatkundlers Ernst Zeiler zurück, der alte Akten und Unterlagen des Landesamts für Geologie und Bergbau in Koblenz studierte und auswertete.
Man geht davon aus, daß bereits im 18. Jahrhundert in der Reichensteiner Grube das zu 50 % aus Eisenerz bestehende Mineral Siderit, auch Spateisenstein oder Stahlstein genannt, gefördert wurde. Zur Weiterverarbeitung und eigentlichen Erzgewinnung brachte man das Gestein in die nahegelegene Raubacher Eisenhütte. Das Bergwerk gehörte durch Erblehen den Grafen bzw. Fürsten zu Wied. Im Jahr 1761 verpachtete die gräflich-fürstliche Verwaltung das Gelände an den Münzmeister und damaligen Verwalter der Raubacher Hütte Quirin Fritsch, der von 1759 bis 1765 ein Münzunternehmen in Altenkirchen betrieb. Das Pachtgeld betrug 100 Rheinische Gulden. Nachweislich bis ins Jahr 1795 betrieb Fritsch die Förderung und den Abbau von Siderit, Blei- und Kupfererzen, Spahlerit (Zinkblende) und Antimon.
Im 19. Jahrhundert ging das Bergwerk in den Besitz eines Neuwieder Bergwerkvereins über. Eines seiner bekanntesten Mitglieder war der Kaufmann Cassius Piel, der ein enger Freund des Dichters Hoffmann von Fallersleben war. Danach wurden die Besitzverhältnisse unübersichtlich. Schon in den 1870er Jahren tauchte der Name der Gutenhoffnungshütte Sterkrade/Oberhausen aus dem Ruhrgebiet auf. Weitere Miteigentümer bzw. Anteilseigner scheinen u.a. der aus Struthütten kommende Hermann Schreiber, der Fabrikant Julius Reusch aus Kruft, die Geschwister Hatzmann aus Diez und der Bankier Hermann Herz aus Limburg gewesen zu sein. Erst 1916 klärte ein Gericht die Besitzverhältnisse endgültig zu Gunsten der Gutehoffnungshütte Oberhausen. Der Betrieb war in dieser Zeit von einem ständigen Wechsel von Inbetriebnahme und Stilllegung geprägt. Oftmals fand keine wirklicher Erzabbau statt, sondern es wurden sogenannte Aufschluß-, Aufwältigungs- und Vorrichtungsarbeiten durchgeführt. Im Januar 1869 waren 12 Männer unter Tage beschäftigt, die höchste, erfasste Zahl an Mitarbeitern in diesem Jahrhundert. Der Lohn betrug für eine zwölfstündige Schicht 14 Silbergroschen.
Die Blütezeit erlebte das Bergwerk im 20. Jahrhundert. 1915 erfolgte die Wiederinbetriebnahme durch die Gutehoffnungshütte Oberhausen. In Spitzenzeiten wie 1929 waren 170 Kumpels unter Tage beschäftigt. 58 weitere Männer gingen ihrer Arbeit über Tage nach, sieben Büroangstellte waren in der Verwaltung tätig. Zudem wurde die Anlage deutlich erweitert und ausgebaut. 1930 errichtete man auf dem Grubengelände eine Röstofenanlage und 1933 erfolgte die Fertigstellung einer elektro-magnetischen Aufbereitungsanlage. Mit den 1930er Jahren jedoch nahm die Menge an abbaufähigen Erzen zusehends ab. Von 1934 bis 1936 fanden noch einmal weitgehende, durch staatliche Gelder geförderte Untersuchungsarbeiten statt auf der Suche nach weiteren, profitablen Lagerstätten. Diese blieben aber erfolglos. Trotz beträchtlicher staatlicher Hilfen in Höhe von insgesamt 66 254 Reichsmark verbuchte die Reichensteiner Grube in den Jahren 1934 bis 36 einen Verlust von 54 421, 85 RM. Dem am 1. März 1936 von der Hoffnungshütte gestellten Antrag zur Schließung der Anlage wurde fünf Monate später entsprochen. Am 6. August 1936 stand der Betrieb still. Bemühungen der Werksleitung, die Mitarbeiter auf Werke in Süddeutschland zu verteilen, blieben vergebens, da die meisten Kumpels Haus, Hof und Familie in den umliegenden Dörfern hatten. Bis 1938 blieb die Gutehoffnungshütte Eigentümer der Anlage. Danach erwarb die Gemeinde Reichenstein das Gelände, um es später an die Barbara-Rohstoffbetriebe GmbH weiterzuveräußern. Ob es Versuche der Firma gab, die Anlage wieder in Betrieb zu setzen, ist mir nicht bekannt.
Vielen Puderbachern ist Hans Heuchemer sicherlich noch in guter Erinnerung. Er war es, der das Gelände im Jahr 1977 für sich und seine Familie kaufte. Sein Interesse an der Geschichte der Reichensteiner Grube muß groß gewesen sein, denn er sammelte über die Jahre eine Vielzahl an alten Aufnahmen der Anlage und seiner Mitarbeiter. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei der Tochter Hans Heuchemers bedanken, die mir freundlicherweise etliche dieser Bilder für meinen Blog zur Verfügung gestellt hat. Tausend Dank liebe Katja!! (Beitrag vom 3.02.2022)
Verunglückt
Besonders ergreifend ist das Schicksal des am 12. November 1899 geborenen Wilhelm Schmidt. Sein Vater Karl hat bis 1920 als Fuhrmann am Gasthof Kasche gearbeitet. Die ganze Familie trägt deswegen den Rufnamen „Kasches-Schmidts“. Am 3. Februar 1925 tritt Wilhelm nach einjähriger erfolgloser Arbeitssuche seinen Dienst an der „Räister Gruw“ an. Auch der aus Woldert stammende 21jährige Werner Neitzert steht nach längerer Arbeitslosigkeit jetzt wieder in Lohn und Brot. Zwei Tage nach ihrem Arbeitsbeginn kommt es zur Katastrophe. Während ihrer Schicht stürzt einer der Stollen ein und begräbt die beiden und einen weiteren Kumpel unter meterdicken Geröllmassen. Die Bergungsmannschaften können nach Stunden einen der Verschütteten retten, für Wilhelm Schmidt und Werner Neitzert kommt jede Hilfe zu spät. Drei Tage später findet auf dem Puderbacher Friedhof unter zahlreicher Anteilnahme der Bevölkerung die Beerdigung statt. Beide werden in ihrer Bergmannskleidung beigesetzt.
„Räister Gruw“ oder Grube Silberwiese?
Bei den nächsten drei Aufnahmen ist die Zuschreibung leider nicht eindeutig. Zu sehen ist u.a. der gebürtig aus Reichenstein kommende Willi Sommer, der etliche Jahre im Bergbau tätig war. Sein Enkel, der mir freundlicherweise die Fotografien ausgeliehen hat, erinnerte sich, daß sein Großvater sowohl in der Grube „Reichensteiner Berg“ als auch in der Zeche „Silberwiese“ in Oberlahr tätig war. Der Betrieb in der „Räister Gruw“ wurde am 6. August 1936 eingestellt und in Oberlahr fuhren die letzten Kumpel am 31. März 1941 unter Tage. Die Frage bleibt, wo die Aufnahmen gemacht wurden.
Aus der Raubacher Hütte wird die Papierfabrik Hedwigsthal
Die Familie Freudenberg als Hüttenbesitzer
Über Generationen befindet sich die sogenannte Raubacher Hütte, ein Eisenwerk zur Herstellung von Roheisen, im Besitz der Familie Freudenberg. Bereits im 18. Jahrhundert wird der Gräfliche Kammerrath zu Dierdorf Johann Philipp Freudenberg und seine aus einer Unternehmerfamilie stammende Frau Sophia Fredericka Remy in den Urkunden als Eigentümer des Werks erwähnt. Ihm folgt ein weiterer Johann Philipp, geboren 1768 und angestellt als Fürstlich Wiedischer Hofkammerrath zu Neuwied. Und auch die nächste Generation wird im Jahr 1803 auf den Namen des Vorfahren Johann Philipp getauft. Dieser Freudenberg lebt mit seiner Frau Caroline und den 5 gemeinsamen Kindern in einem geräumigen Haus auf dem Werksgelände. Im Jahr 1873 muß die Raubacher Hütte veräußert werden, da alle Nachfahren andere Wege einschlagen und keiner die Leitung des Werks übernehmen will. Der 1838 geborene Wilhelm wird ein renommierter Dirigent und Komponist und der 1843 geborene Johann Philipp wird Überseekaufmann. Am bekanntesten wird aber die 1858 in Raubach geborene Ika Freudenberg werden. Sie macht sich als führende Frauenrechtlerin in Deutschland einen Namen, gründet den Verein für Fraueninteressen und ist Vorstandsmitglied des Bunds deutscher Frauenvereine.
Die erste Papierfabrik Hedwigsthal
Die Gebrüder Carl und Hermann Milchsack haben das Hüttengelände 1873 von den Freudenbergs käuflich erworben. Die Geschwister wollen auf dem Areal des Eisenwerks eine Papierfabrik errichten. Am 30. Juni 1874 ist es dann soweit. Wo früher die Anlage zur Erzeugung von Roheisen stand, werden nun in den neuerrichteten Fabrikgebäuden Papierrollen für Telegraphenapparate, Diagrammpapier für die unterschiedlichsten Aufzeichnungsgeräte, sowie Papier für die Herstellung von Gewehrpatronen hergestellt. Das Unternehmen erhält den wohlklingenden Namen „Hedwigsthal“ nach dem Vornamen der Verlobten von Hermann Milchsack. Zunächst scheint das Geschäft erfolgreich zu laufen. Die Milchsacks erhalten bei der Internationalen Elektrizitätsaustellung in Paris 1881 eine Auszeichnung. Auch an mangelnden Kunden kann es nicht gefehlt haben. Sie liefern Ihre Produkte an Staatstelegrafen u. Eisenbahnverwaltungen sowohl im In- als auch im Ausland. Doch bereits 1881 kommt es zum Zerwürfnis zwischen den Brüdern und die beiden Geschäftsmänner trennen sich. 1882 wird der Betrieb eingestellt, da die Firma bankrott und nicht mehr zahlungsfähig ist.
Wechselnde Inhaber
Danach bricht eine unstete Zeit für das Firmengelände der Papierfabrik an. Zunächst kauft ein Verwandter der Familie Freudenberg, der aus Bendorf kommende Wilhelm Remy, das Areal. Er übergibt das Unternehmen an die Firma Jagenberg & Söhne aus Altenkirchen, die Backpapier und andere Papierarten herstellt. Doch bereits 1891 wird der Betrieb wieder geschlossen. Der nächste Besitzer ist ein Hermann Heß aus Gießen, dessen Geschäftsidee unklar bleibt. Er entfernt sämtliche papierproduzierenden Maschinen und Gerätschaften aus den Hallen. 1909 trifft man auf Albert Bäßler aus Gevelsberg, der wieder in die Eisenverarbeitung einsteigen will. 1916 kauft dann der Unternehmer Johann Lohmann aus Fahr am Rhein das Fabrikgelände und produziert in den Werkshallen Zellstoffwatte. 1923 folgt die Weltwirtschaftskrise und der Zusammenbruch der Märkte. Hedwigsthal wird stillgelegt. 1924 steht das Gelände wieder einmal zum Verkauf.
Übernahme durch die Papierfabrik Halstrick
Am 17. Dezember 1927 übernimmt Johannes Scheffer-Hoppendörfer die Leitung des leer stehenden Firmengeländes. Er ist Miteigentümer des erfolgreichen papierproduzierenden Unternehmens Halstrick in Stotzheim. 1903 hatte Adolf Halstrick die Fabrik in Efferen bei Köln eröffnet. 1929 wird der Sohn des Firmengründers Dr. Adolf Halstrick die Leitung von seinem Onkel übernehmen und das Werk in Raubach bis 1952 sicher und erfolgreich durch die Jahre führen, auch wenn in den Kriegsjahren durch einen Brand Teile der Anlage ein Raub der Flammen werden. 1953 folgt für sechs Jahre Dr. Walter Halstrick in der Firmenleitung, bevor 1959 Dr. Rudolf Halstrick und Karl Theodor Boden die Geschäfte bis ins Jahr 1998 weiterführen. Seit 1998 ist die Anlage Teil des finnischen Konzerns Metsä Tissue. Das Unternehmen ist mit seinem Produkt „Saga“ der weltweit größte Hersteller von Backpapier.
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Gemälde von Januarius Zick aus dem Jahr 1776 u.a. mit Johann Philipp Freudenberg und seiner Frau Sophia Fredericka Remy