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Geschichte der jüdischen Familie Cahn aus Daufenbach
Haben Sie auch schon einmal an der Gedenktafel an der Puderbacher Friedhofshalle inne gehalten und sich die Inschrift durchgelesen? Hier wird der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnert, die während der Nazi-Diktatur verfolgt, entrechtet und ermordet wurden. Mir persönlich sind die Familien Puderbachs, die Arons, Bärs, Salomons und Wolffs durch die Erzählungen meiner Großeltern, durch die Unterlagen und Fotos von Herrn Ted Tobias und durch eigene Recherchen sehr vertraut geworden.
Weitgehend unbekannt blieb mir das Schicksal der jüdischen Dorfbewohner in den umliegenden Dörfern. Wer waren die in Urbach lebenden Geschwister Jakob, Sara und Karoline Levi und wohin hatten die Nazis sie verschleppt? Was geschah mit dem in Daufenbach lebenden Metzger Max Cahn, seiner Frau Hedwig und den gemeinsamen Kindern?
Bei Recherchen im Archiv der Puderbacher Verbandsgemeinde stieß ich 2023 auf mehrere Dokumente der Familie Cahn, die mich zutiefst berührten. Es handelte sich um Anträge zur Ausstellung eines Reisepasses und auf den Formularen waren zwei Fotos von Max und Hedwig Cahn angebracht. Zum ersten Mal bekamen die beiden für mich ein Gesicht, wurden für mich greifbar. Dies war der Anlass, weiter zu forschen.
Inzwischen ist eine umfangreiche Sammlung entstanden, die neben einem ausführlichen Stammbaum und einigen Fotografien auch amtliche Schriftstücke enthält, die den Lebens- und Leidensweg der weitverzweigten Familie nachzeichnen und die an dieser Stelle Eingang finden sollen.
Meyer Cahn
Es ist auffällig, wie sehr sich die Lebensläufe von Meyer Cahn, von allen Max genannt, und seinem Vater Jakob doch ähneln. Schon nach wenigen glücklichen Ehejahren verstirbt deren Ehefrau und hinterlässt die Männer mit mehreren minderjährigen Kindern. Beide heiraten ein zweites Mal und gründen neue Familien. Doch beginnen wir die Geschichte von vorne.
Maxs Vater ist der 1843 in Bochum geborene Metzgermeister Jakob Cahn. Die Ursprünge der Familie lassen sich bis in das bei Neuwied gelegene Segendorf zurückverfolgen. Am 30. November 1871 heiratet Jakob die aus Bigge im Hochsauerlandkreis stammende Rieka Stern. 1874 erblickt Meyer/Max das Licht der Welt, fünf Jahre später erfolgt die Geburt des Sohnes Albert.
Früher Tod
Leider gibt der Auszug aus dem Bochumer Standesamtregister keine Auskunft, woran die gerade mal 32jährige Rieka in den frühen Morgenstunden des 20. Februar 1881 verstirbt. Nüchtern und sachlich vermeldet der Beamte den Tod der Mutter und Ehefrau in der Wohnung der Bochumer Altstadt. Der Schmerz und die Trauer des jungen Witwers und der zwei kleinen Söhne lässt sich nur erahnen.
Es ist garnicht so selten, daß Familienangehörige die durch den plötzlichen Tod hervorgerufenen Lücken wieder schließen. 1883 heiratet Jakob Cahn seine unverheiratete Schwägerin, die 1853 in Bigge geborene Emilie Stern. Vier weitere Kinder entstammen dieser Verbindung, der 1884 geborene Simon, Moritz (1888) und die beiden Töchter Amalie (1894) und Hermine (1902). Mitte/Ende der 1880er Jahre siedelt die Familie von Bochum ins Sauerland über.
Metzgergeselle in Köln
Um 1899 treffen wir Max in Köln wieder. Einige Jahre zuvor hat er hier eine Ausbildung zum Metzger begonnen. Wer mag der koschere Schlachtermeister gewesen sein, bei dem er in die Lehre gegangen ist? Verbringt er seine Lehrjahre bei dem aus dem Vorgebirge stammenden Arnold Katz, der 1892 am Mauritius-Wall 16-18 seine erste Metzgerei eröffnet und dessen Kinder daraus ein florierendes Unternehmen mit zahlreichen Filialen machen? Arbeitet er in dem 1895 eröffneten Städtischen Schlachthof in der Liebigstraße, einem prächtigen Bau im Neorenaissance-Stil? Desweiteren bleibt für mich die Frage, wie sich die Wege des jungen Metzgergesellen und die, der aus Urbach stammenden Jette Levi kreuzen.
Jette Levi
Geboren wird Jette Levi am 16. September 1864 in Urbach als Tochter des Handelsmanns Isaak Levi und seiner Frau Jette geb.Veit. Zu der näheren Verwandschaft gehören der Onkel Moses, seine Frau Helene geb. Hoffstadt und deren Kinder Karoline (1884), Jakob (1889) und Sara (1893), ebenfalls wohnhaft in Urbach. Bei meinen Recherchen stieß ich auf einen weiteren Onkel, den Metzgermeister Häsel genannt Hermann Levi. Er ist in 2. Ehe mit der aus Rothenkirchen bei Fulda stammenden Bertha Stern verheiratet und hat wohl zwei Söhne, Arthur und Harry. Desweiteren gibt es Anverwandte, die in Daufenbach lebende Amalie Meyer, im Ort als „Säckels Malchen“ bekannt, sowie ihre Schwester Karoline, die mit dem Katholiken Wilhelm Balke aus Bochum verheiratet ist.
Jettes Onkel Hermann war u.a. in Köln als Fleischhauer beschäftigt. Lernt die junge Frau Max bei einem ihrer Besuche in der Rheinmetropole kennen?
Das Abmeldebuch des Amts Puderbach zeigt uns, daß junge, unverheiratete Frauen, wie Jettes Cousinen Sara und Karoline Levi, immer wieder in anderen Städten als Dienstmagd arbeiten, in sogenannter Stellung sind. Es liegt nahe, daß auch Jette solch einer Beschäftigung nachging. Ist sie in Köln angestellt und trifft dort auf den Metzgergesellen Meyer Cahn?
Der nächste gesicherte Nachweis findet sich in den Puderbacher Gemeindeakten. Am 20. März 1899 meldet Isaak Levi die Geburt seines Enkelsohnes Julius an, der drei Tage zuvor das Licht der Welt erblickt hat. Jette ist zu diesem Zeitpunkt noch unverheiratet. Legitimiert wird das Kind sieben Monate später, am 13. Oktober durch die standesamtliche Heirat des Metzgergesellen Max Meyer Cahn aus Bochum und der früheren Dienstmagd Jette Levi aus Urbach. Das frisch getraute Paar bezieht ein kleines, eingeschoßiges Häuschen in der Bohnengasse in Daufenbach.
Die Cahns und ihre Kinder
In rascher Folge bekommt das Paar neben dem erstgeborenen Julius (17.03.1899) sechs weitere Kinder, Sigmund (11.12.1900), Markus (4.02.1902), Alfred (1903), Emil (8.04.1904), Friederike (31.10.1905) und Juliane (10.04.1910).
Man muß sich die Lebensverhältnisse der vielköpfigen Familie mehr als einfach vorstellen. Max verdient mit dem Schlachten von Ziegen und Lämmern und dem Verkauf der Felle ein bescheidenes Einkommen. Der spitz zulaufende Garten, der sich vor dem Haus befindet, versorgt die Familie zusätzlich mit Kartoffeln und anderem Gemüse. Wie leben und schlafen neun Personen in einem Gebäude, das laut Zeitzeugen nur aus zwei Stuben und einem einfachen Lehmboden besteht?
Todesfall
Am 30. Juni 1915 wird die in Puderbach lebende Eva Tobias am Puderbacher Amt vorstellig. Dem zuständigen Beamten, es handelt sich um Bürgermeister Ermisch, teilt sie mit, daß die gerade fünfzigjährige Jette Cahn in ihrem Haus in Daufenbach verstorben ist. Sie selbst war zum Todeszeitpunkt zugegen, hat die Sterbende in ihren letzten Stunden begleitet. Auch die minderjährigen Kinder werden an ihrem Sterbebett gewacht haben. Nur der Ehemann scheint nicht dabei gewesen zu sein. Ob er zum Zeitpunkt des Todes beruflich auf Reisen war? Oder diente er als Soldat an den Fronten des 1. Weltkriegs? Wir wissen es nicht genau.
Zweite Ehefrau
Fünf Jahre später, am 6. Mai 1920, heiratet Max Cahn erneut. Seine Braut ist die 35jährige Henriette Daniel. Geboren am 8. September 1884 in Oberdreis ist sie die Tochter des Handelsmann Daniel Daniel und seiner Frau Julie geborene Veit. Vor dem Standesbeamten erscheinen neben den Brautleuten auch die Trauzeugen, der in Puderbach ansässige Viehhändler Tobias Tobias sowie Henriettes Bruder Albert Daniel.
Max Kinder aus 1. Ehe sind zum großen Teil erwachsen und schlagen eigene Wege ein. Auf Ihren weiteren Lebensweg möchte ich an späterer Stelle eingehen. Mit seiner 2. Ehefrau Henriette bekommt er drei weitere Kinder, den am 8. April 1922 geborenen Günther, gefolgt von Josef (19. März 1924) und der jüngsten Tochter Gerda (21. April 1925).
Jahre der Tyrannei und Entrechtung
Ist die finanzielle Situation der Familie Cahn schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten präker, so spitzt sie sich 1933 weiter zu. Durch den Boykott jüdischer Geschäfte und Betriebe kaufen nur noch wenige Maxs Ziegen, Schaf-und Kälberfleisch bzw. deren Felle. Auch auf den Viehmärkten wird der Handel für Juden immer stärker eingeschränkt. Exemplarisch sei der in Adenau im Kreis Ahrweiler genannt. Hier werden seit dem 18. September 1935 Kontrollzettel ausgegeben, wobei die Tiere der jüdischen Händler einen gelben und die der anderen Bauern einen roten erhalten. Auch die Gatter zum Anbieten der Tiere werden zunächst den „arischen“ Landwirten vorbehalten. So oder so ähnlich mag es auch auf dem Steimeler oder einem anderen Westerwälder Markt zugegangen sein. Am 25. Januar 1937 erfolgt dann das generelle Berufsverbot für jüdische Viehhändler.
Angezeigt und verurteilt
Wer mag es gewesen sein, der Max Cahn im Februar 1937 wegen der Schlachtung eines Tieres zur Anzeige bringt? Bereits am 23. desselben Monats erfolgt die Verurteilung durch die kleine Strafkammer Neuwied. Die vermeintlich nachgewiesenen Vergehen lauten: 1. Aufbewahrung eines Kriegsgeräts u. Schächten eines Tieres, 2. Inverkehrbringung von Fleisch ohne Untersuchung, 3. Nichteichung einer Waage, 4. Betrieb eines Gewerbes ohne Anzeige u. ohne Genehmigung. Die Strafe fällt drakonisch aus. Man verurteilt den 63jährigen zu einer Gefängnisstrafe von 2 Monaten und einer Woche.
Juni-Aktion 1938
Als wären die Lebensumstände nicht schon schwer genug, die Cahns sind in solche finanzielle Nöte geraten, das sie auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, erfolgt der nächste Schicksalsschlag. Am frühen Morgen des 14. Juni 1938 wird Max vom örtlichen Polizeibeamten in Gewahrsam genommen. Grund ist der von SS-Obergruppenführer Reinhold Heydrich herausgegebene Erlass der sogenannten „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, auch „Aktion Arbeitsscheu Reich“ genannt. Neben Landstreichern, Bettlern, Zuhältern, Vorbestraften und Sinti u. Roma werden, auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers, auch Straffällige jüdischer Religion festgenommen.
Besonders menschenverachtend ist der vom zuständigen Amtsbürgermeister Günther verfasste Lebenslauf. Er schreibt u.a.:
„Solange Cahn in Daufenbach wohnt, ist er als fauler, arbeitsscheuer Mann bekannt. Den Viehhandel hat er immer nur soweit ausgeübt, daß er mit dem Ertrag seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. (…) Cahn machte trotz seines geringen Einkommens immer einen wohlgenährten Eindruck; es war mit Bestimmtheit anzunehmen, daß er sich noch Einkommen bzw. Lebensmittel auf dunklem Wege beschaffte.“
Am 15. Juni überstellt man Meyer Cahn an einen zuständigen Amtsarzt beim Staatlichen Gesundheitsamt in Neuwied, der den 64jährigen für lagerhaftfähig erachtet. Erst einem einsichtigen und mitfühlenden Beamten der Kriminalpolizeileitstelle in Köln ist es zu verdanken, daß Max am 20. Juni wegen mangelnder Einsatzfähigkeit mit sofortiger Wirkung aus der polizeilichen Vorbeugehaft entlassen wird.
Novemberpogrom 1938
Die gewaltsamen Auschreitungen gegen jüdische Bürger und ihren Besitz, die in Puderbach bereits seit den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 laufen, dürften sich auch im benachbarten Daufenbach herumgesprochen haben. Als Vorwand für diesen unmenschlichen Exzess dient der Mord an Ernst Eduard von Rath. Drei Tage zuvor hatte der polnische Jude Herschel Grünszpan in Paris den französichen Botschaftsangestellten durch mehrere Schüsse so schwer verwundet, daß er seinen Verletzungen erlag.
Wie mögen die Cahns auf die furchteinflößenden Nachichten aus Puderbach, Urbach und Rodenbach reagiert haben? Eilt Henriette zum Schulgebäude, um ihre jüngste Tochter Gerda frühzeitig aus dem Unterricht zu holen? Verbringt die Familie bange Stunden der Ungewissheit in ihrem Haus in der Bohnengasse?
Die mir vorliegenden Ereignisberichte zum Novemberpogrom, zwei Beiträge im Heimat-Jahrbuch des Landkreises Neuwied von Herrn Gerhard Ebbinghaus (1989) und Herrn Manfred Faust (2010), geben den weiteren Verlauf der Geschehnisse unterschiedlich wieder. Laut Herrn Ebbinghaus versuchen bereits im Laufe des vormittags „linientreue Jugendliche, die Fenster der Familie Cahn einzuwerfen und einzuschlagen“. Es ist wohl dem beherzten Einsatz des ansässigen Schmieds K. Bachenberg zu verdanken, daß dies unterbleibt. Laut den Ausführungen von Herrn Faust treffen die zerstörungswütigen Männer, ein Trio unter dem Ortsgruppenführer Hans Piorek, am späten Nachmittag in Daufenbach ein, bereit, daß kleine Häuschen nebst Inventar zu verwüsten. Doch in diesem Moment greift wieder der Schmied Bachenberg und weitere Dorfbewohner ein. Sie erklären die Aktion von staatlicher Stelle für beendet und stellen sich schützend vor ihre Nachbarn.
Doch diese Versuche, das Anwesen der Cahns vor der Zerstörung zu schützen, bleiben erfolglos. Trotz des beherzten Eingreifens Daufenbacher Bürger gelingt es willigen Helfern der Nazis das Häuschen der Cahns derart zu demolieren, daß es unbewohnbar wird.
Umzug nach Puderbach
Dank der erhaltenen Unterlagen im Puderbacher Verbandsgemeindearchiv wissen wir, daß die Cahns, sowie die wohnungslos gewordene Familie Jakob aus Urbach zunächst eine neue Bleibe im Wohn- und Geschäftshaus der Familie Wolff auf der Puderbacher Mittelstraße finden. Doch 1940 kündigt der neue „arische“ Besitzer den Mietvertrag auf und verlangt, daß sie innerhalb von 7 Tagen das Haus räumen sollen. Der neue Eigentümer beruft sich vermutlich auf das am 30. April 1939 eingeführte „Gesetz über Mietverhältnisses mit Juden“, das faktisch den Mieterschutz für jüdische Bürger aufhebt.
Natürlich ist es den beiden Familien in so kurzer Zeit nicht gelungen, eine neue Wohnung zu finden, sodas sie sich am 5. Juni immer noch im Haus der „Jiddsches“ aufhalten. Nun wird die Gemeindeverwaltung aktiv und prüft, ob man das leer stehende Fachwerkhaus der Rosa Aron, sie ist bereits im September 1939 zu ihrem Bruder nach Gießen gezogen, ankaufen und zum „Judenhaus“ umfunktionieren kann. Tatsächlich kommt es zu einer Einigung und die Cahns und die Jakobs können in das kleine Häuschen an der Steimeler Straße einziehen. Später finden auch die drei ledigen Geschwister Levi aus Urbach hier einen Unterschlupf.
Zwangsarbeit
Das der bereits 66jährige Max Meyer Cahn Zwangsarbeit ableisten muß, gehört nur zu einer der großen Ungerechtigkeiten dieser Zeit. Gerade mal 40 Pfennig pro Stunde zahlt der Bauunternehmer Müller in Woldert für seine Arbeitskraft. Auch die Molkerei in Raubach, bei der er danach zwangsverpflichtet wird, entrichtet nicht mehr als diesen Hungerlohn. Er sieht sich gezwungen, bei der Reichsvereinigung der Juden in Köln, eine Wohlfahrtsunterstützung zu beantragen.
Judenstern
Am 1. September 1941 ergeht an alle noch verbliebenen jüdischen Einwohner Deutschlands die besonders erniedrigende Verordnung zum Tragen eines gelben Judensterns. Auch den Cahns, Levis und Jakobs an der Steimeler Straße ist es nicht mehr erlaubt, ohne dieses auf Brusthöhe angenähte, handtellergroße Zeichen das Haus zu verlassen.
Abgemeldet nach
All meine Bemühungen, dem weiteren Leidensweg der fünfköpfigen Familie Cahn nachzuverfolgen, blieben erfolglos. Weder das NS-Dokumentationszentrum in Köln mit seinem Verzeichnis der Deportierten aus der Rheinmetropole und aus dem Gebiet des Rheinlands, noch die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem mit ihrer Zentralen Datenbank der Opfer der Shoah, führt die Namen von Max, Henriette, Günther, Josef und Gerda. Das Einzige was bleibt, sind die im Puderbacher Verbandsgemeindearchiv erhaltenen Abmeldedaten der fünfköpfigen Familie.
Bereits am 12. November 1939 verlässt Josef Cahn Puderbach in Richtung Köln. Ob er dort bei Verwandten der Familie unterkommt? Erhält er hier seinen Bescheid zur „Umsiedlung“ in den Osten?
Für den 1. August 1941 notiert das Register den Wegzug von Gerda Cahn nach Nordrach im Schwarzwald. Das gesundheitlich angeschlagene Mädchen findet im dortigen Rothschild-Sanatorium für Lungenkranke eine neue Bleibe. Wann genau sie von dort in die Vernichtungsstätten im Osten deportiert wird, ist nicht bekannt.
Am 30. März 1942 erfolgt die Abmeldung von Max, Henriette und Günther Cahn. Gemeinsam mit den Geschwistern Levi aus Urbach verziehen sie nach „unbekannt“. Vermutlich werden sie einem der Deportationszüge zugeteilt, die Deutschland in Richtung Polen verlassen. Dort, in den elenden Ghettos von Izbica und Krasniczyn, den Vernichtungslagern Sobibor und Majdanek verliert sich ihre Spur.
Die Kinder aus erster Ehe
Und was geschah mit Max Cahns Kindern aus erster Ehe? Auch an ihr Schicksal und das ihrer Familien soll hier erinnert werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Sigmund, Emil und Juliane, da deren weiterer Lebenslauf durch entsprechende Unterlagen eingehend dokumentiert ist.
Alfred und Friederike Cahn
Keine Informationen liegen mir zu dem 1903 geborenen Alfred und der zwei Jahre jüngeren Schwester Friederike vor. Es mag sein, daß die beiden im Kindesalter verstorben sind.
Markus Cahn
Mehr wissen wir über den frühen Tod des 1902 geborenen Markus Cahn. Der einfache Arbeiter wird im Dezember 1923 Opfer eines Willkürakts der französisch-belgischen Besatzungsarmee. Vermutlich auf dem Bahnhof Koblenz-Lützel wird er von Soldaten erschossen. Solche Vergehen sind, laut den Akten des Preußischen Geheimarchivs, keine Seltenheit in diesen Jahren.
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Julius Cahn
Hier sei an den 1899 geborenen Julius erinnert, der älteste Sohn von Max und Rieka Cahn. Er kann sich während des 2. Weltkriegs in Belgien vor den nationalsozialistischen Häschern verstecken. Nach Kriegsende wird er seinem Geburtsort Daufenbach des Öfteren einen Besuch abstatten. Am 24. Juli 1979 verstirbt er achtzigjährig im baden-württenbergischen Stuttgart.
Juliane Cahn verh. Braunberger
Die jüngste Tochter Juliane, Jahrgang 1910, heiratet am 9. Juni 1937 in Rotterdam den Niederländer Jakob Just Braunberger. Es mag sein, daß sich das Paar über Julianes Tante Amalie Cahn verheiratete Van Straten kennengelernt hat, die seit Ende der 1920er Jahre im holländischen Zaltbommel lebt. Durch diese Heirat ist Juliane zunächst vor dem Zugriff der Nazis sicher. Doch am 10. Mai 1940 überfallen deutsche Truppen den bisher neutralen Staat. Fünf Tage später unterschreibt General Winkelman die Kapitulationsdokumente. Im Oktober desselben Jahres prasseln die ersten antijüdischen Gesetze und Verordnungen auf die jüdische Bevölkerung nieder. Dann, im Juli 1942, finden die ersten Deportationen in die Ostgebiete statt. Vom Durchgangslager Westerbork aus werden die beiden am 28. September 1942 ins KZ Auschwitz transportiert. Zwei Tage später trifft der Zug mit 610 Männern, Frauen und Kindern im Vernichtungslager ein. Ob Juliane und ihr Mann an der Rampe ins Arbeitslager oder direkt in die Gaskammern selektiert werden, ist nicht bekannt. Der 30 September ist ihr offizielles Sterbedatum.
Links:
https://www.joodsmonument.nl/en/page/127611/juliane-braunberger-cahn
https://www.oorlogsbronnen.nl/tijdlijn/Juliane+Braunberger+Cahn/57/130266725
Sigmund „Sally“ Cahn
Der im Jahr 1900 geborene Sigmund, auch Sally genannt, heiratet um 1930 die aus Gräfenhausen bei Darmstadt stammende Henny Collin. Das Paar bekommt drei Söhne, Karl (18.03.1931), Jakob Günther (22.06.1932) und Manfred (13.04.1935). Zusammen mit seiner verwitweten Schwiegermutter Berta Collin führt er ein Geflügel- und Milchwarengeschäft nebst Metzgerei. Mit Inkrafttreten der Verordnungen zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben und dem Einsatz jüdischen Vermögens im Jahr 1938 wird die Familie gezwungen, den Laden zu schließen und ihr Haus in der Steinstraße zu verkaufen. Um den Zugriff der Nationalsozialisten zu entgehen, emigrieren die Cahns am 14. März 1939 in die Niederlande. Dort lebt, wie oben bereits erwähnt, Sigmunds Schwester Juliane sowie seine Tante Amalie van Straten. Doch bereits 1940 erfolgt die gewaltsame Okkupation durch deutsche Truppen. Vermutlich 1943 wird die fünfköpfige Familie in das Durchgangslager Westerbork verbracht.
Von dort erfolgt am 18. Januar 1944 die „Umsiedlung“ ins Ghetto Theresienstadt. Bereits im Oktober 1941 hatte die sogenannte Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Prag beschlossen, die im 18. Jahrhundert erbaute Garnisonsstadt im heutigen Tschechien als Durchgangslager zu nutzen. Die Lebensumstände in diesem Ghetto sind kathastrophal. Es mangelt an Nahrungsmitteln und es fehlen Medikamente. Krankheiten grassieren und es herrscht eine drangvolle Enge. Zudem kommt die ständige Angst vor der Deportation in den Osten. Wie gelingt es Sigmund unter diesen Umständen, seine Frau und die drei kleinen Kinder acht Monate durchzubringen?
Am 28. September 1944 beginnt die Deportation von rund 18.500 Personen, die sich noch in Theresienstadt aufhalten. Die Zeitzeugin und Überlebende Ada Levy berichtet 1946 über die unmenschlichen Bedingungen dieses Transports, bei dem 2499 Personen in Viehwaggongs gepferscht werden, unter ihnen Sigmund, Henny und die drei Kinder. Sie schreibt:
„Die grauenhaften Zustände dieses (…) Transports brachten uns völliger Verzweiflung und dem Tode nahe. Es schien uns der Höhepunkt des Schrecklichen – denn konnte es noch Schrecklicheres geben? (…) Nach dieser Todesfahrt, ins völlig Ungewisse, ohne Luft, ohne Wasser, ohne Licht, gedrängt aneinander stehend, oft zwischen Toten, wurden wir nachts ausgeladen, nicht ahnend, wo wir waren, im Stile der SS mit Knüppeln empfangen. Männer und Frauen sofort getrennt (…) Da ertönte das barsche Kommando: ‚Frauen zu zweit vormarschieren‘ und vor uns stand im hellen Scheinwerferlicht ein SS-Mann, der durch Fingerzeig aussortierte: rechts-links-rechts-links. Ich musste zur linken Seite und wusste nicht, das dieses meine erste Glückssekunde sein sollte. (…) Wir wurden dann in der Nacht zu einem Marsch über die Landstrasse angetrieben, unterwegs rollten die Lastwagen mit unseren Kammeradinnen an uns vorüber. Wir mit Schmerzen und Übermüdung uns kaum auf den Beinen haltend, nur getrieben von den Knüppeln der Bewachung, wären gerne dabei gewesen, ohne zu ahnen, dass für die auf den Lastwagen stehenden es die Fahrt in den Tod bedeutete: NIE wieder hat man je etwas von ihnen gesehen oder gehört.„
Henny und die Kinder kommen vermutlich kurz nach Ankunft des Zuges in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben. Laut Unterlagen des Durchgangslagers Westerbork stirbt Sigmund am 28. Februar 1945 höchstwahrscheinlich an den Folgen der unmenschlichen Lagerhaft, einen Monat nach Befreiung durch Soldaten der Roten Armee.
Besonders berührt hat mich die Geschichte des 1904 geborenen Emil Cahn und seiner Familie. Am 11. Mai 1925 heiratet der gelernte Schuhmacher die in Köln geborene Irene Löwenstein. Das Paar zieht im Anschluß nach Wesseling im Rhein-Erft-Kreis. Dort kommen die drei gemeinsamen Kinder zur Welt, am 25. August 1925 der älteste Sohn Joseph, gefolgt von Kurt (10.04.1929) und der jüngsten Tochter Hannelore (31.05.1935). Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten werden die Lebensumstände für die Familie immer schwieriger.
Dann, am 9. November 1938, wird Emil im Zuge der Reichspogromnacht verhaftet und in die Abtei Brauweiler bei Pulheim gebracht. Seit 1933 nutzt die Kölner Gestapo den früheren Klosterbau als Arbeitsanstalt und Gefängnis. In zwei Bahntransporten verbringt man rund 600 jüdische Männer in das berüchtigte Konzentrationslager Dachau bei München. Im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom werden deutschlandweit rund 60.000 Personen in den Lagern Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau inhaftiert.
Die Ankunft in den KZs beschreibt eindringlich der damals 50jährige Berliner Rechtsanwalt Franz Memelsdorff, der am 11. November verhaftet und im Anschluß ins Konzentrationslager Sachenshausen bei Oranienburg gebracht wird. Er schreibt:
„»Ihr Judenschweine, wollt Ihr wohl herauskommen?!« Das war das Erste,was ich hörte. »Na, wird’s bald mit euch vollgefressenen Arschlöchern? Kommt nur herunter, ihr Mistviecher!« (…) Vor dem Ausgang des Lastwagens standen etwa ein Dutzend Männer in grau-grünen Uniformen, am Kragen die beiden SS-Zeichen, junge Leute, jeder mit einer Peitsche oder einem Stock »bewaffnet«. Alle hieben wahllos auf die Menschen, die aus dem dunklen Loch herauskamen, mit aller Kraft ein. Vor mir stürzte ein Mann, er wurde mit Füßen bearbeitet. »Wollt ihr wohl die Hüte abnehmen, ihr Judenlümmel?! Wollt ihr wohl laufen, ihr Schweine?!«, hörte ich rufen. »Ihr wisst wohl nicht, dass ihr ins Konzentrationslager kommt?« (…) Von lauter Uniformierten war eine Gasse gebildet, die man passieren musste. Von rechts und links hagelten die Hiebe. Viele dieser Leute stellten den Juden ein Bein, nicht wenige fielen hin und wurden dann mörderisch zugerichtet, ich entging diesem Schicksal, einmal sprang ich über das hingehaltene Bein eines Uniformierten. Aber Prügel habe ich eine Menge bezogen, als ich die etwa 500 m durchlaufen hatte und das riesengroße Tor erreichte, das den Eingang des Konzentrationslagers Sachsenhausen bildet.“
Es folgt ein nicht enden wollender Zählappell, ohne Essen, ohne Austreten zu dürfen und bei empfindlich kühlen Temperaturen. 23 Stunden dauert dieses Martyrium. Danach führt man sie in die Baracken. Die kommenden Wochen sind von, Schikanen, Schlägen und Zwangsarbeit geprägt. So ähnlich mag es Emil Cahn während seiner dreimonatigen Gefangenschaft in Dachau ergangen sein.
Irene hat inzwischen den schweren Entschluß gefasst, sich von den Kindern zu trennen und Joseph, Kurt und Hannelore zu ihrer Schwägerin Juliane nach Rotterdam zu schicken. Dort scheinen sie in vermeintlicher Sicherheit zu sein. Am 7. Februar 1939 treffen die drei bei ihrer Tante ein.
Nach der Entlassung aus dem KZ Dachau am 13. Februar 1939 ziehen Emil und Irene nach Köln in ein sogenanntes „Judenhaus“ am Großen Griechenmarkt. Wie durch ein Wunder gelingt ihm von dort die Emigration nach London. Er meldet sich freiwillig bei der britischen Armee und darf daraufhin einreisen. Von hier aus versucht er, seine Frau und die drei Kinder nach Großbritannien zu holen.
Joseph, Kurt und Hannelore werden nach einem mehrmonatigen Aufenthalt bei den Braunbergers in die Obhut des jüdischen Waisenhauses „Help For Weezen“ (Ezer Jatom) in Den Haag gegeben. Am 8. September 1940 erfolgt der Wechsel in das israelitische Kinderheim in Utrecht. Joseph beginnt in dieser Zeit seine Ausbildung zum Tischler. Auf den Fotografien, die in dieser Zeit von den Dreien entstehen, wirken sie gelöst und heiter.
Doch am 12. Februar 1942 werden die drei ins Zwischenlager Westerbork deportiert. Zwei Jahre werden sie dort verbringen. Trotz der drangvollen Enge in den Baracken und den mangelnden hygienischen Verhältnissen existiert ein geregelter Lageralltag. Mit den eigens für das Camp hergestellten Banknoten kann man einkaufen. Es gibt Unterricht für die schulpflichtigen Kinder und die Erwachsenen können z.T. einer Arbeit nachgehen. Selbst Theater- und Konzertaufführungen finden statt. Ein fast „normales“ Leben, wäre da nicht die permanente Angst vor den Deportationen Richtung Osten.
Am 4. September 1944 verlässt ein Transport mit 2074 Personen Westerbork in Richtung Ghetto Theresienstadt, unter ihnen Josef, Kurt und Hannelore Cahn. Die Überlebende Ilse Blumenthal berichtet über die Fahrt in Viehwaggongs, die mehr als 30 Stunden dauert, wie folgt:
„Wir haben keine Möglichkeit, uns zu bewegen. Wir sitzen stumm, gebückt und dicht gedrängt nebeneinander (…) und dann hält der Zug endgültig an. (…) Befleckt, verängstigt, todmüde taumeln die Menschen aus den Waggongs, die sich endlich auf dem Bahnsteig geöffnet haben.“
Treffen sie ihre Mutter wieder, die 1944 ebenfalls dorthin deportiert wurde? Stoßen sie auf ihren Onkel Sigmund und dessen Familie?
All die Jahre waren die Geschwister nie voneinander getrennt. Doch drei Wochen nach Ankunft in Theresienstadt, am 23. September 1944, deportiert man Kurt und Hannelore ins Vernichtungslager Auschwitz. Vermutlich werden beide nach ihrer Ankunft selektiert und umgebracht. Josephs Transport geht am 29. September Richtung Auschwitz ab. Seine Spur verliert sich im Januar 1945 im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, wohin man viele Gefangene nach Auflösung des Lagers in Polen verschleppt hat.
Wann erfährt Emil, daß seine Kinder den Holocaust nicht überlebt haben? Wann erhält er Nachricht von seiner Frau, die das Ghetto Theresienstadt überstanden hat?
Die Gründe mögen vielfältig sein, warum sich Irene und Emil Cahn 1948 scheiden lassen. Einer liegt in der langen Trennung ab 1939. Irene lernt in dieser Zeit, als sie sich in Köln verstecken muß, Moritz Brunner kennen, mit dem sie zwei weitere Kinder bekommt. Angehängt finden Sie ein Interview, das Ihre Tochter, die 1943 zur Welt kommt, der Frankfurter Rundschau gibt. Niemand kann die Lebensumstände besser schildern als sie.
https://www.fr.de/panorama/rettete-leben-11391910.html
Emil, der sich inzwischen Eric Caley nennt, heiratet im Juli 1949 die ebenfalls emigrierte Östereicherin Fanni Herzog. Neun gemeinsame Jahre verbleiben den beiden, bevor er am 23. Dezember 1958 mit gerade mal 54 Jahren in London verstirbt.
Links:
https://stolpersteine.wdr.de/web/de/stolperstein/10603
(Gesamtbeitrag fertiggestellt am 21. Juni 2024)
Dernbach
Dierdorf
Untertorturm
Johanniter-Krankenhaus um 1940
600 Jahrfeier Stadt Dierdorf
Benutzt die Kraftpost
Dierdorf in den 1960er Jahren
Döttesfeld
Link:
https://www.hotel-zum-wiedbachtal.de/html/historie.html
Ehlscheid
Flammersfeld
Link:
https://argewe.lima-city.de/auswanderer/kraus_carl.htm