Jüdisches Leben in Puderbach / Die Geschwister Aron

Vier der jüdischen Familien Puderbachs sind ähnlich wie die Bärs eng miteinander verwandt und entstammen dem Familienzweig der Arons ab. Er lässt sich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachverfolgen und geht auf Anschel Aron zurück, der 1828 in Puderbach als Schächter/Metzger arbeitet und lebt. Sein Sohn ist der am 28. September 1828 geborene Jonas Aron, der mit der vermutlich aus Anhausen stammenden Amalie Tobias verheiratet ist. Dem Paar werden sieben Kinder geschenkt, beginnend mit dem 1859 zur Welt gekommenen Theodor Aron. Es folgen Jettchen (1860), Anschel (1865), Leopold (1867), Jakob (1870), Dina (1872) und zuletzt Aron (1875). Die Familie lebt in einem kleinen Haus auf der Hauptstraße gegenüber dem Bürgermeisteramt.

Theodor, Jakob und Dina

Drei der sieben Geschwister werden Puderbach verlassen. Der älteste Sohn Theodor wird Arzt werden und lebt mit seiner aus Hönningen stammenden Frau Henriette Samson zunächst in Neuwied. Dort kommen auch die gemeinsamen Kinder zur Welt. Später siedelt die Familie nach Berlin über, wo Theodor 1935 als Witwer verstirbt. Alle Familienangehörigen werden den Holocaust überleben.

Ein Zeitungsartikel berichtet über den Tod des Sanitätsrats Theodor Aron, der am 2. März 1935 in Berlin an einem Schlaganfall verstirbt.

Dina Aron heiratet den aus Kirchheim stammenden Kaufmann Wolfgang Weiss. Das Paar lebt in Flamersheim bei Euskirchen, wo auch die vier gemeinsamen Kinder zur Welt kommen. Zwei davon versterben früh an Tuberkulose. Dem Sohn Paul gelingt die Emigration. Die Tochter Martha wird 1941 ins Ghetto Litzmannstadt deportiert, wo sie 1944 auch umkommt. Die Eltern werden beide über Köln am 15. Juni 1942 ins Ghetto Theresienstadt verschleppt. Wolfgang stirbt dort am 19. April 1943. Dina wird zwei Jahre im Lager überleben bis sie im Mai 1944 nach Auschwitz kommt. Dort wird sie am 15.05. in den vermeintlichen Duschräumen vergast.

Jakob Aron und seine aus den Niederlanden stammende Frau Josephine geb. Coopman leben in Köln. Von dort werden sie wie die Schwester Dina und ihr Mann am 15. Juni 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Drei Monate später sind beide tot, in den Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka umgebracht. Der Sohn Moritz und seine aus Rodenbach stammende Frau Ortense geb. Tobias überleben ebenfalls nicht. Sie kommen im Ghetto Riga um.

Die Familie Adolf Aron

Das jüngste Kind von Jonas und Amalie Aron ist der am 29. August 1875 geborene Aron, von allen aber nur Adolf genannt. Mit 6 Jahren wird er eingeschult und besucht bis 1889 den Unterricht bei Herrn Lehrer Becker in dem alten Schulgebäude auf der Kirchbitz. Seinen weiteren beruflichen Werdegang beschreibt er in einer eidesstattlichen Erklärung aus dem Jahr 1955 wie folgt:

„Von April 1889 bis Januar 1890 arbeitete ich auf dem dortigen Bürgermeisteramt bei Bürgermeister Melsheimer… Am 19. Januar 1890 trat ich bei der Firma S. Saalfeld, Manufakturwaren, Limburg a.d. Lahn, in die Lehre ein. Nach Beendigung der Lehrzeit im Jahr 1892 war ich bei der gleichen Firma als Reisender tätig und zwar bis zum 31. Mai 1894… Alsdann war ich bis Ende März 1898 bei der Firma S. Grünebaum in Frankenthal (Pfalz) als Verkäufer tätig… und anschließend bei der Firma I.M. Baum in Wiesbaden und zwar bis zum 31. März 1899…“

Geschäftseröffnung und Heirat

Nach diesen Lehr- und Arbeitsjahren kehrt Adolf Aron 1899 nach Puderbach zurück und gründet im Stammhaus der Familie ein eigenes kleines Bekleidungsgeschäft. In diese Zeit fällt auch seine Hochzeit mit der am 23. März 1882 in Schmalnau bei Fulda geborenen Theresia Tannenwald, von allen Thekla genannt. Sie findet im Jahr 1901 statt.

In der Ausgabe des Israelitischen Familienblatts Berlin vom 14. August 1902 verkünden Adolf und Thekla Aron die Geburt ihrer Tochter Martha.

1903 dann ziehen Adolf und Thekla mit ihrer kleinen Tochter Martha ins neugebaute Ziegelhaus an der Mittelstraße gegenüber der Gastwirtschaft Hümmerich. Hier befinden sich die Verkaufsräume und das Warenlager im Erdgeschoß und im 1. Stock wohnt die Familie.

Manufaktur- und Konfektionswarengeschäft Adolf Aron
Dieser wunderbare Werbeartikel, der für die Kinderbekleidung der in Stuttgart ansässigen Firma Bleyle wirbt, blieb bis in unsere Tage erhalten. Er stammt aus der Zeit, als vor allem die Matrosenanzüge des Unternehmens sich größter Popularität erfreuten. Unten erkennt man den Schriftzug des Manufaktur- und Modewarengeschäfts Adolf Aron in Puderbach.

Neben Herren-, Damen- und Kinderbekleidung, Stoffen und Kurzwaren kann man bei „Adolfs“, so lautet der Rufname der Familie, auch Möbel und Maschinen kaufen. Die Qualität der angebotenen Waren ist exquisit. Zudem bestechen Adolf und Thekla Aron mit ihrer freundlichen und zuvorkommenden Art. Kein Kunde verlässt den Laden, ohne eine Tasse Kaffee angeboten zu bekommen.

Hier haben sich mehrere Personen um das Jahr 1912 vor dem Manufaktur- und Konfektionswarengeschäft des Adolf Aron zu einer Aufnahme zusammengefunden. Man achte auf das schicke Automobil! Ganz rechts stehen die Töchter des Adolf Aron, Martha verh. Wolff (3. von rechts) und Ruth verh. Tobias (ganz rechts), zwischen ihnen Johanna Gottschalk, die Schwester der Witwe Selma Bär. Heute befindet sich an der Stelle des früheren Wohn- und Geschäftshauses die Kreisparkasse Puderbach.
Eine Aufnahme des Wohn- und Geschäftshauses aus den 1930er Jahren. Das Gebäude war das erste im Dorf, das mit Ziegeln gebaut wurde. Die Schaufensterauslagen waren immer ein Blickfänger, wie zum Beispiel die mit einem nachgebildeten Schwan, der für die hervorragende Qualität der angebotenen Bettdecken, Kissen und Bezüge stand.

1920 kann Adolf mit seinem Manufaktur- und Bekleidungsgeschäft expandieren. Er eröffnet eine zweite, größere Filiale in der Altenkirchener Innenstadt.

Der Laden in Altenkirchen befand sich auf der Kölner Straße 1a, nicht weit vom Bahnübergang auf der Koblenzer Straße entfernt. Dieses Bild dürfte um 1932 aufgenommen worden sein. Vorm Eingang des Manufaktur- und Konfektionswarengeschäfts stehen von rechts nach links: Adolf Aron, Martha Aron verh. Wolff, ihre Tochter Lottie, Marthas Ehemann Josef Wolff und mglw. die aus Oberähren stammende Katharina Weber später verh. Schmidt, die vor ihrer Hochzeit Kindermädchen der kleinen Lotte war.
Glückliches Familienleben

Am 3. August 1902 bringt Thekla die älteste Tochter Martha zur Welt, gefolgt von der am 30. November 1903 im neuen Wohnhaus geborenen Ruth. 1912 und 1916 erblicken Ludwig und Erwin das Licht der Welt. Das Bild unten zeugt von einem harmonischen und glücklichen Familienleben bis in die beginnenden 1930er Jahre.

1921 entstand diese wunderbare Fotografie der Familie Aron. Im Zentrum sitzt der Vater Adolf, rechts hinter ihm, den Arm liebevoll auf seine Schulter legend, steht seine Frau Thekla. Links neben ihr stehen die fast erwachsenen Töchter Ruth und Martha. Links und rechts neben dem Vater sieht man die beiden Söhne Erwin und Ludwig. Das Arrangement der Personen und die Platzierung im Freien erinnern an den berühmten Kölner Fotografen August Sander. Ob das Bild wohl aus seiner Hand stammt?
Persönliches Engagement

Unter anderem ist es Adolf Arons persönlichem Engagement zu verdanken, daß 1908 die Puderbacher Synagogengemeinde gegründet wird und man drei Jahre später, am 4. und 5. August 1911, die feierliche Einweihung des Synagogenbaus begehen kann. Auch in späteren Jahren wird er als Mitglied des Vorstands sich immer wieder für die Belange der kleinen jüdischen Gemeinde einsetzen, wie untenstehendes Schriftstück eindrücklich belegt. Adolf Aron bittet darin um eine finanzielle Beihilfe für den jüdischen Religionsunterricht, der immer Mittwochs und Sonntags im örtlichen Schulsaal stattfindet.

Puderbach, den 12. Sept. 1916 / An das Bürgermeisteramt hier / Für die Erteilung des jüdischen Religionsunterrichtes hierselbst bitte ich die bisher gewährte Beihülfe von 270 Mark höheren Ortes erwirken zu wollen. Wie ja bekannt, haben sich die Verhältnisse in keiner Weise geändert. Hochachtungsvoll Adolf Aron
Kriegsteilnehmer

Rund 100.000 jüdische Männer kämpfen während des 1. Weltkriegs auf deutscher Seite. Auch Adolf Aron wird 1915 gemustert, an der Waffe ausgebildet und an die Front geschickt. Wie er in seiner eidesstattlichen Erklärung aus dem Jahr 1955 notiert, wird er erst am 25. November 1918 aus dem Kriegsdienst entlassen. Nach seiner Heimkehr wird er aktives Mitglied des Puderbacher Kriegervereins und setzt sich wie die anderen Mitwirkenden für die Errichtung eines Ehrenmals ein.

Adolf Aron (Mitte) um 1915 in feldgrauer Uniform mit Männern seiner Militäreinheit.
Die Töchter heiraten

Im Jahr 1925 heiratet die älteste Tochter Martha den 1887 in Rheinbrohl geborenen Josef Wolff. Vermutlich haben sich die beiden über die gemeinsame Tante Jette Wolff kennengelernt, die mit ihrem Sohn und dessen Familie in der Nähe des Gasthofs Kasche lebt. Das frischvermählte Paar zieht im Anschluß nach Altenkirchen und übernimmt die Geschäftsleitung der dort befindlichen Zweigstelle des Manufaktur- und Konfektionswarengeschäfts Adolf Aron.

Hier hat sich die Hochzeitsgesellschaft für ein Gruppenfoto vorm Eingang der Synagoge zusammengefunden. Neben den Brautleuten sind durchnummeriert zu sehen: 1 Adolf Aron, 2 Thekla Aron geb. Tannenwald, 3 Ruth Aron verh. Tobias, 4 Jette Wolff geb. Aron, 5 mglw. Betti Tobias verh. Kahn, 6 Lehrer Ginsberg aus Dierdorf und 7 Ludwig Aron.

Am 6. August 1933 findet die Hochzeit der zweitältesten Tochter Ruth statt. Sie vermählt sich mit dem am 1. März 1904 geborenen Viehhändler Leo Tobias, dessen Eltern 1905 aus dem nahegelegenen Anhausen nach Puderbach gezogen sind.

Das glückliche Paar ist mit Familienangehörigen für einen Schnappschuß zusammengekommen. Neben Leo und Ruth sind durchnummeriert zu sehen: 1 Martha Aron verh. Wolff, 2 ihr Mann Josef Wolff, 3 die gemeinsame Tochter Lottie, 4 Ludwig Aron, 5 Thekla Aron geb. Tannenwald, 6 Adolf Aron, 7 Eva Tobias geb. Heilberg, 8 Tobias Tobias, 9 Betti Tobias verh. Kahn, 10 ihr Mann Benno Kahn aus Giershofen, 11 Lehrer Ginsberg aus Dierdorf und 12 Günther Wolff.
Jahre der Erniedrigung

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 nehmen auch die antijüdischen Gesetze, Verbote und Repressalien stätig zu. Adolf Aron und seine Familie müßen erleben, wie sich am Morgen des 1. April 1933 Mitglieder der NSDAP, der SA, der HJ bzw. des Stahlhelm vor den jüdischen Geschäften postieren, Schilder mit der Aufschrift „Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ oder „Die Juden sind unser Unglück!“ in die Höhe halten und Kunden daran hindern, die Ladengeschäfte zu betreten. Ein Augenzeuge berichtet, daß selbst Kinder und Jugendliche, deren Eltern fanatische Parteigenossen sind, die jüdischen Dorfbewohner bis hin zu tätlichen Angriffen belästigen.

Jedes Mal, wenn ich dieses Bild des Wohn- Geschäftshauses der Familie Aron sehe, frage ich mich, was das für Farbstriche auf den Schaufensterscheiben sind. Sind es die Reste antijüdischer Schmierereien, die Dorfbewohner dort angebracht haben?

Auch die Altenkirchener Filiale ist betroffen. Die Westerwälder Zeitung berichtet: „Dienstag Vormittag (der 28. März 1933) wurden durch SA-Leute sämtliche jüdischen Geschäfte der Stadt für etwa eine halbe Stunde geschlossen. Diese Maßnahme war als Auswirkung der Gegenaktion gegen die jüdische Greuelpropaganda im Ausland zu betrachten“.

In den nächsten Jahren wird es Adolf Aron unmöglich gemacht, sein Konfektions- und Manufakturwarengeschäft normal weiterzuführen. Er selbst beschreibt es wie folgt: „Es war mir unmöglich, meine Ware zu verkaufen, da der größte Teil der Bevölkerung zu der NSDAP gehörte und der kleine Teil, der nicht Mitglied der Partei war, Angst hatte, mein Geschäft zu betreten.“

Wieviel Kummer und Sorgen wurden Adolf und Thekla Aron seit 1933 bereitet. Man meint ihnen die Beschwernis anzusehen.

Die Folge ist, daß er seine Altenkirchener Zweigstelle schließen muß. Die Tochter Martha und ihr Mann Josef Wolff, die das Geschäft für mehrere Jahre geleitet haben, ziehen mit der gemeinsamen Tochter Lottie wieder nach Puderbach.

Diese Aufnahme dürfte um 1938 entstanden sein. Nach der Geschäftsaufgabe der Altenkirchener Filiale ziehen Josef und Martha Wolff (links) mit ihrer gemeinsamen Tochter Lottie (zwischen Thekla und Adolf Aron stehend) wieder ins Haus der Eltern nach Puderbach. Hier müssen sie am 10. November 1938 die unbeschreiblichen Ausschreitungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung miterleben.

Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938, die der jüdischen Bevölkerung den Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen und Handwerksbetrieben untersagt, wird Adolf Aron seine Arbeitsgrundlage völlig entzogen. Er schreibt in seiner eidesstattlichen Versicherung wie folgt: „1938 wurde ich gezwungen, mein Geschäft zu schließen und mein Warenlager, das ich nach bestem Wissen und Gewissen auf 2000 Reichsmark schätze, für 500 RM zu verschleudern.“

Hinzu kommt die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938, die Juden zwingt, ihre Immobilien und Grundstücke zu verkaufen. Mit Inkrafttreten dürfen sie auch nicht mehr über ihre Ersparnisse verfügen.

Alltägliche Schikanen und Diskriminierungen

Neben den staatlichen Verordnungen kommen die alltäglichen Diskriminierungen. Die Familie erhält immer wieder Briefe oder Postkarten, in denen sie beschimpft, verunglimpft und bedroht wird.

Bei einem anderem empörenden Zwischenfall, der sich im Anwesen der Schwiegermutter Eva Tobias auf der Steimeler Straße ereignet, wird eines der Kinder von Ruth und Leo von einem Stein getroffen und verletzt. Unbekannte hatten die Fensterscheiben des Hauses eingeworfen.

Im September 1937 feiert die ganze Familie den ersten Geburtstag von Theo Kurt Tobias. Hier sieht man den stolzen Großvater Adolf Aron mit seinem Enkelkind. Ein Jahr später müssen sich die Großeltern von der Familie verabschieden. Im August 1938 verlässt die Tochter Ruth mit den drei kleinen Kindern Deutschland in Richtung USA.

Bei der Geburt des jüngsten Sohnes Gerd im Frühjahr 1938 verweigert die ansässige Hebamme jedwede Hilfe, sodas die in den Wehen liegende Ruth ins Altenkirchener Krankenhaus gebracht werden muß.

Flucht in die USA

Nachdem die Verhältnisse in Nazi-Deutschland immer unerträglicher werden, bemühen sich auch Ruth und Leo Tobias, ins Ausland zu emigrieren. Möglicherweise ziehen sie zunächst die westeuropäischen Länder wie die Niederlande oder Frankreich in Betracht. Doch vielleicht ahnen sie, daß die Nachbarstaaten vor der Willkür Hitlers nicht sicher sind.

Dann am 16. März 1938 sticht Leo Tobias als Erster mit dem Ozeandampfer „S.S. President Roosevelt“ vom Hamburger Hafen Richtung USA in See. Fünf Monate später folgt ihm von Bremen aus seine Frau Ruth mit den drei kleinen Kindern. In der West 169th Street im New Yorker Bronx-Viertel findet die Familie ein vorläufiges Zuhause.

40 Jahre später beschreibt Ruth sehr eindrücklich und berührend die Gefühlslage nach Ankunft in den Staaten: „Die Heimat verlassen zu müssen, um dem Tod zu entgehen, kann nur der verstehen, der es selbst erlebt hat. Fremde Menschen, fremde Sprache, fremde Sitten, heimatlos.“

Zwei Jahre nach der Emigration von Ruth Tobias und ihrer Familie gelingt auch dem Bruder Ludwig Aron die Flucht in die USA. Am 14. März 1940 tritt er mit dem Passagierdampfer S.S. Veendam von Rotterdam aus die Reise in die USA an.
Auch er muß in Nazi-Deutschland erleben, wie er wegen seiner jüdischen Religionszugehörigkeit zusehends aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wird. Sein begonnenes Medizinstudium kann er nicht abschließen. Daraufhin absolviert er in Berlin eine Ausbildung zum jüdischen Prediger und Lehrer.
Nach seiner Ankunft in den Staaten findet er zunächst in dem Städtchen New Ulm im Bundessstaat Minnesota eine neue Bleibe. Dort arbeitet er als Redakteur für eine kleine Zeitung. 1942 erfolgt seine Einberufung in die US-Army. Zwei Jahre später siedelt er nach New York über und heiratet dort am 30. Oktober 1944 die aus Rodenbach stammende und ebenfalls emigrierte Hertha Tobias. Hier kommt auch die gemeinsame Tochter Ellen zur Welt. Die darauffolgenden Jahre nutzt er für seine Ausbildung zum Rabbiner.
Am 21. August 1953 verstirbt Ludwig plötzlich und für die Familie völlig unerwartet kurz vor Absolvierung seines Examens. Posthum wird ihm von seinen Lehrern und Dozenten die Rabbinerwürde übertragen. (Beitrag vom 20.01.2022)
Novemberpogrom 1938

Das Attentat auf den französischen Botschaftsangestellten Ernst Eduard von Rath durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris dient der NS-Führung als Vorwand, um am 9. und 10. November die sogenannten Novemberpogrome an der jüdischen Bevölkerung und deren Einrichtungen durchzuführen.

Der damalige NSDAP Ortsgruppenleiter Hans Piorek, der bereits am späten Mittwochabend des 9. November in einer Versammlung in Neuwied unterrichtet wurde, trommelt am folgenden Tag früh um 8 Uhr alle Parteimitglieder, sowie alle der NSDAP angehörigen Beamten und Angestellten der Bürgermeisterei zusammen. Nach einer kurzen Lagebesprechung im Gasthof Kasche schwärmen die Männer gegen 9 Uhr aus, unterstützt von willigen Dorfbewohnern.

Ganz normaler Schultag

Für die neunjährige Lottie Wolff ist dieser Donnerstag ein ganz normaler Schultag. Sie macht sich am frühen Morgen mit ihrem Ranzen auf den Weg zum Schulgebäude im Mühlendorf, nicht ahnend, daß eine Stunde später nichts mehr so sein wird, wie zuvor.

Gegen 9 Uhr tauchen die zerstörungslustigen Männer und Frauen unter Führung von Piorek vor dem Wohn- und Geschäftshaus der „Adolfs“ auf, verhaften den Schwiegersohn Josef Wolff und schaffen ihn und alle anderen Männer unter 60 Jahren mit einem Lastwagen fort. Wohin man ihre Angehörigen bringt, erfahren Adolf, Thekla und die Tochter Martha nicht.

Lottie Wolff Mitte der 1930er Jahre. Sie ist die einizge noch lebende Zeugin der Ereignisse des Novemberpogroms in Puderbach.
Erinnerungsbericht

Lottie Wolff verfasste 1947 einen Erinnerungsbericht, aus dem ich zitieren möchte. Ihre Mutter Martha war nach der Verhaftung des Vaters und den Beginn der Ausschreitungen zur Schule geeilt, um ihre Tochter zu holen. Sicherlich ahnte das Mädchen sofort, daß etwas Fürchterliches im Gange war. Sie fragt ihre Mutter:

„Mami, wo ist Vati?“ Meine Mutter sah mich an und wußte zunächst nicht, was sie antworten sollte und fing dann langsam an zu weinen. Sie hatte einen Blick in den Augen, den ich vorher noch niemals gesehen hatte, einen tiefen verletzten Blick, als sie sagte: „Sie haben ihn heute morgen abgeholt mit den anderen Männern.“ Ich begann von neuem zu weinen, da ich jetzt begriff, daß es einen Grund gab zu weinen. Mein Papa war nicht zu Hause. Vielleicht würde ich ihn niemals wieder sehen. Niemals zuvor hatte ich so ganz begriffen, wie viel er mir bedeutete.“

Im Anschluß beginnt die entfesselte Menge mit ihren Verwüstungen. Alle 23 Fenster und Schaufenster des Hauses werden zerschlagen, alle Möbel und Haushaltsgegenstände fast vollständig zerstört, etliche Wertgegenstände entwendet. Noch ahnen Lottie, ihre Mutter und die Großeltern nicht, wie groß die Zerstörungen sind.

In letzter Sekunde

Auch in die Synagoge ist der Mob eingedrungen. Toraschrein, Lesepult, Kirchenbänke, Gebetsbücher, alles wird kurz und klein geschlagen und vor den Eingang des Gotteshauses geworfen. Kurz bevor Adolf Aron mit dem Rest der Familie in Schutzhaft genommen wird, kann er eine im Schmutz der Straße liegende Torarolle an sich nehmen und in aller Eile im Haus verstecken. Kurz darauf werden die zusammengeworfenen Einrichtungsgegenstände der Synagoge sowie der Kirchenbau selbst ein Raub der Flammen. Lottie Wolff schreibt in ihrem Erinnerungsbericht:

„Als wir uns unserem Haus näherten, sahen wir Flammen. Meine Mutter zeigte darauf und sagte mir, daß die Nazis dabei seien, unsere Synagoge niederzubrennen, die direkt hinter unserem Haus stand.“

Schutzhaft

Alle verbliebenen jüdischen Männer, Frauen und Kinder des Ortes, sowie die Dorfbewohner, die man aus Urbach, Daufenbach und Rodenbach nach Puderbach wie Vieh getrieben hat, werden in sogenannte Schutzhaft genommen und im Amtsgebäude eingeschloßen. Später pfercht man sie im Wohnhaus des Leopold Aron zusammen. Lottie Wolff wird diese Stunden der Ungewissheit nie vergessen. Sie schreibt:

„Die folgende Nacht war die schrecklichste in meinem ganzen Leben. Acht oder neun Familien waren zusammen in ein Haus gesteckt worden, wo sie auf Decken im Flur schliefen. Nur die alten Männer über 60 – wie mein Großvater – hatte man zurückgelassen, um die Frauen und Kinder zu beschützen. Fragen wie diese gingen rund. Wo sind unsere Männer? Was passiert mit unseren Häusern? Was wird mit uns geschehen? Was, wenn sie auch dieses Haus abbrennen?

Die Nacht verging langsam; aber als der Morgen kam, wurde es uns erlaubt, zu unseren eigenen Häusern zurückzugehen. Die Synagoge war vollständig abgebrannt, aber unser Haus stand noch. Wir gingen hinein und waren geschockt über den Anblick. Unsere Möbel waren derart zerstört, daß eine Reparatur kaum möglich sein würde. Aber wir waren nicht über unsere Möbel besorgt, wir machten uns Sorgen um meinen Vater…“

KZ Dachau

Im Laufe des Tages tauchen mehrere der verhafteten Männer wieder auf. Man hatte sie ins Gerichtsgefängnis nach Neuwied gebracht und nach ihrer Entlassung am nächsten Morgen die rund 25 km lange Strecke zurück nach Puderbach laufen lassen. Doch Josef Wolff ist nicht unter ihnen. Er und sein Cousin Hermann Wolff, sowie der aus Urbach stammende Jakob Levi wurden ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Die Nachicht ist für die Angehörigen ein Schock. Lottie schreibt:

„Dachau! Ein Wort, das jedem eiskalte Schauer über den Rücken jagte, ein Ort des Entsetzens, ein weithin bekanntes Konzentrationslager. Es folgten drei schwere Wochen. Drei schwere Wochen, in denen wir unsere Wohnung wieder herrichteten, in denen wir nicht wußten, ob wir mit den Leuten sprechen sollten oder nicht, und in denen wir nicht wußten, was die Nazis sich als nächstes einfallen lassen würden.

Am Ende der drei Wochen wachte ich eines Morgens auf und hörte eine vertraute Stimme vor der Tür meines Schlafzimmers. Ich schrie, sprang aus dem Bett, öffnete die Tür und rannte geradewegs in die Arme meines Vaters. Er war ok. Er war wieder zu Hause. natürlich sah er ein bisschen dünner aus und hatte einen Bürstenhaarschnitt, aber was bedeutete das schon? Ich glaube nicht, daß ich ihn an seinem ersten Tag zu Hause aus den Augen gelassen habe. Wir hatten Glück, daß wir als Familie wieder vereint waren, mehr als viele andere.“

Raus aus Deutschland

„Drei Wochen, in denen wir nicht wußten, ob wir mit den Leuten sprechen sollten oder nicht.“ Lottie beschreibt sehr genau, wie schwierig es nach den Ausschreitungen geworden ist, mit den Dorfbewohnern umzugehen, wie unerträglich es wurde, in ständiger Angst vor neuen Ausschreitungen zu leben. Deswegen steht für die Familie fest, daß sie so schnell wie möglich Deutschland verlassen müssen. Alle Bemühungen gehen jetzt in diese Richtung. Doch zunächst zieht die ganze Familie im August 1939 nach Köln. Kurz zuvor war das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden in Kraft getreten, das den Mieterschutz für jüdische Bürger quasi aufhob. Juden durften sich nur noch bei jüdischen Vermietern oder jüdischen Einrichtungen einmieten. Adolf und Thekla Aron ziehen in die Engelbertstraße 23, vermutlich auch die Wohnadresse von Josef, Martha und Lottie Wolff. Falls man dem vermutlich erzwungenen Umzug überhaupt etwas Gutes abgewinnen kann, dann ist es die Gemeinschaft mit anderen jüdischen Leidensgenossen, die es ebenfalls in die Metropole verschlägt. Zudem bietet die Großstadt eine gewisse Anonymität.

Hausverkauf

Mit der bereits erwähnten Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben und der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens, die beide Ende 1938 in Kraft treten, werden Adolf und Thekla Aron dazu gezwungen, ihr Manufaktur- und Konfektionswarengeschäft aufzugeben und das Haus nebst Grundstücken zwangsweise zu verkaufen. Eine behördliche Abschätzungskommission legt den Wert des Gebäudes auf einen Betrag von 17.000 Reichsmark fest, ein Wert, der sicherlich nicht zu hoch angesetzt wurde. Es finden sich Käufer, die Aron einen Betrag von 13.200 RM anbieten, also weit unter Wert. Doch diese finden nicht die Zustimmung der Kreisverwaltung, die die Transaktion billigen muß. Die zukünftigen Besitzer sind keine Parteimitglieder. Also muß ein neuer Interessent gefunden werden. Am 3. Mai 1940 wird der Kaufvertrag endlich abgeschloßen und das Wohn- und Geschäftshaus geht an einen „passenden“ Käufer für die Summe von 12.750 RM. Der Betrag wird auf ein Sperrkonto hinterlegt mit der Auflage, daß nur mit Genehmigung der Oberfinanzdirektion Köln über das Geld verfügt werden kann. Zudem verlangt das zuständige Finanzamt eine „Judenvermögensabgabe“ von 3.423,80 RM, eine „Auflagenbetrag“ von 1.750 RM und eine Verwaltungsgebühr von 65 RM.

USA

Nach einem Dreivierteljahr intensiver Bemühungen besteigen am 26. März 1940 im belgischen Antwerpen Josef, Martha und Lottie Wolff den Passagierdampfer „S.S. Pennland“ und verlassen Deutschland in Richtung Nordamerika. Eine entscheidende Rolle für die Bewilligung der Ausreise wird sicherlich die Schwester Ruth gespielt haben, die sich bereits mit ihrer Familie in den USA aufhält und für die Familienangehörigen bürgt. Zuvor ist es bereits dem Bruder Ludwig Aron gelungen, über Rotterdam Europa zu verlassen. Erwin, dem jüngsten der vier Geschwister, gelingt zunächst die Flucht nach Südafrika, bevor er 1947 seiner Familie in die Staaten folgt.

Der Reisepass von Thekla Aron, ausgestellt am 8. April 1940 in Köln. Mit der diskriminierenden Verordnung vom 1. Januar 1939 mußten jüdische Bürgerinnen und Bürger ihrem Vornamen den Namen „Sara“ bzw. „Israel“ hinzusetzen. Zudem wurde der Pass mit einem großen „J“ für Jude versehen.
Odyssee durch halb Europa

Die Ausreise von Adolf und Thekla Aron gestaltet sich schwieriger. Mit Beginn des Jahres 1941 befinden sie sich immer noch in Köln. Die Töchter und deren Familien, die sich bereits in den Staaten aufhalten, werden mit größter Sorge den schleppenden Fortgang beobachtet haben. Am 4. Januar 1941 wird dann endlich die Ausreise über Spanien und Portugal in die Vereinigten Staaten von Amerika von den zuständigen Behörden genehmigt.

Der so heiß ersehnte Stempel, der Adolf und Thekla Aron berechtigt, Deutschland bis zum 2. Mai 1941 über Spanien und Portugal zu verlassen.

Am 26. April geht ihr Flug vom Stuttgarter Flughafen in die spanische Hauptstadt Madrid. Am 29. befinden sie sich bereits in Lissabon. Portugal hat auf Grund der stark steigenden Zahl an Geflüchteten die Aufenthaltsdauer auf 30 Tage begrenzt. Zudem werden Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Nach all diesen Strapazen und Anstrengungen, legen sie im Mai 1941 mit einem der letzten Schiffe in Richtung USA ab.

Die Familie Leopold Aron

Ich hörte zum ersten Mal von den „Jonasens“ durch die Erzählungen meine Großmutter. Als sie 1929, sie ist noch ein junges Mädchen von 17 Jahren, ihre Verwandten in Essen besuchen soll, fehlt es an passender Garderobe. Kurzerhand kauft man in dem kleinen Manufakturwarenladen der Familie Leopold Aron einen pelzverbrämten Mantel für sie.

Diese Aufnahme dürfte um 1930 entstanden sein und zeigt das Wohn- und Geschäftshaus des Leopold Aron und seiner Frau Johanna geb. Gerson. Rechts befindet sich das kleine Ladengeschäft, in dem man verschiedenste Dinge des alltäglichen Bedarfs erwerben konnte. Bereits der Stammvater und Metzger Jonas Aron, der der Familie den Rufnamen verlieh, wird hier seinen Fleischerladen betrieben haben.

Eigentlich ist der am 20. Dezember 1867 geborene Leopold von Beruf Viehhändler. Er zieht über die Märkte der umliegenden Ortschaften und erwirbt Jungvieh. Nach einem Jahr der Aufzucht verkauft er die Tiere wieder und hofft auf einen kleinen Gewinn. Nebenbei betreibt er wie fast alle Puderbacher Dorfbewohner ein wenig Landwirtschaft, um die Familie mit dem Nötigsten selbst zu versorgen.

1899, Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters, heiratet er die aus Perscheid im Hunsrück kommende Johanna geb. Gerson. Zu dieser Zeit wohnt noch der jüngste Bruder Adolf mit im Haus und leitet in den früheren Räumen der Metzgerei ein kleines Bekleidungsgeschäft. Johanna wird ihm zur Hand gegangen sein.

Leopold Aron und seine Frau Johanna geb. Gerson um das Jahr 1935.
Das Sorgenkind Hugo

Die Freude über die Geburt des Sohnes Hugo am 25. Mai 1901 wird groß gewesen sein. Am 20. Juni 1904 folgt dann die Niederkunft Johannas mit einem weiteren Jungen, der den Namen Arthur erhält. Die beiden Kinder bereiten dem Paar zunächst viel Freude. Doch Hugo wird zum Sorgenkind. Er leidet unter starkem Husten und nachdem sich die Eltern ärztlichen Rat eingeholt haben, steht fest, daß er an Tuberkulose leidet, einer bakteriellen Erkrankung der Lungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die sogenannte Schwindsucht noch nicht heilbar, die ersten Impfstoffe werden erst Ende der Zwanziger Jahre verabreicht. Trotzdem versuchen Leopold und Johanna Aron alles, um den Gesundheitszustand ihres Ältesten zu verbessern, koste es, was es wolle.

Bei diesem Ausweis handelt es sich um die Gewerbe-Legimitationskarte des lungenkranken Hugo Aron. Er muß auf seinen Verkaufstouren das Dokument stets bei sich tragen und auf Verlangen vorzeigen.
Um 1930 dürfte diese wunderbare Aufnahme von Johanna Aron geb. Gerson mit ihren beiden Söhnen entstanden sein. Links sehen wir den 1901 geborenen Hugo, ganz rechts mit Brille und dunklem Haar den drei Jahre jüngeren Arthur. Die stattliche, hochgewachsene Statur des „Jonasens Hugo“ kann nicht über seinen angegriffenen Gesundheitszustand hinwegtäuschen. Die vierte Person ist Hugo Sternberg, der Cousin der beiden Brüder. Die Familienmitglieder haben sich auf dem angrenzenden Grundstück hinter dem an der Hauptstraße befindlichen Wohnhaus versammelt. Somit erhaschen wir einen Blick auf den angrenzenden Holzbach und das dahinter befindliche Bahnhofsgebäude. (Beitrag vom 20.01.2022)
Das Jahr 1933

Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bedeutet für die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik den Todesstoß. Bereits zwei Tage später, am 1. Februar, wird der Reichstag aufgelöst. Durch die sogenannten Notverordnungen, der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 wird Deutschland zur zentralistischen Diktatur umgebildet.

Für den jüngsten Sohn von Leopold und Johanna Aron, dem zu dieser Zeit 29jährigen Arthur, steht sofort fest, daß er als Jude in Nazi-Deutschland keine Zukunft hat. Deswegen beginnt er umgehend, die Möglichkeiten für eine Auswanderung auszuloten. Warum er sich letztlich für Südafrika entscheidet, kann ich nicht sagen. Von den 63.400 Personen, die sich 1933 zur Emigration entschließen, treibt es die meisten in die europäischen Nachbarländer wie Frankreich oder die Niederlande.

Am Montag, den 28. August ist es dann soweit. Arthur muß sich von seinen in die Jahre gekommenen Eltern und dem todkranken Bruder verabschieden und verlässt seine alte Heimat über Luxenburg in Richtung Johannesburg.

Nur aus der Ferne können Leopold und Johanna Aron die Hochzeitsvorbereitungen ihres Sohnes verfolgen. Am 14. August 1938 findet dann im südafrikanischen Johannesburg die Heirat mit der aus Düsseldorf stammenden Sofie Girdisky statt. Diese Anzeige in der jüdischen CV-Zeitung informiert die in Nazi-Deutschland zurückgeblieben Verwandten.
Nach langer Krankheit

1934 verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Hugo Aron zusehends. All die Therapien und Medikamente können das Vorschreiten der Lungenkrankheit nicht aufhalten.

Der durch die Tuberkulose-Erkrankung sichtlich geschwächte Hugo Aron. Das Laufen scheint im zusehends Probleme bereitet zu haben, sodass er einen Stock benutzen muß. (Beitrag vom 20.01.2022)

Da er die Waren aus dem kleinen Kramladen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbst ausliefern und feilbieten kann, sucht er durch ein Inserat im Israelitischen Familienblatt einen engagierten jungen Mann, der ihn auf den Reisen vetritt.

Den Beginn von Channuka, dem acht Tage dauernden jüdischen Lichterfest, erlebt der junge Mann nicht mehr. Am 9. Dezember verstirbt er im Haus seiner Eltern.

Wie soll es weitergehen?

Zu dem privaten Schicksalschlag kommen die Sorgen und Nöte durch die immer restriktiveren Verordnungen und Gesetze der Nationalsozialisten. Seit dem Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 hat die Kundschaft in dem kleinen Kramladen stetig abgenommen. Für Johanna Aron gibt es kaum noch etwas zu tun. Und auch Leopold werden als Viehhändler kaum noch zu überwindende Hürden auferlegt. Viele Jahre konnte er problemlos beim Puderbacher Bürgermeisteramt eine Legitimationskarte für ein stehendes Gewerbe beantragen, die mit einem relativ niedrigen Steuersatz verbunden war. Nun wird sie ihm verweigert und er muß einen Wandergewerbeschein erbitten, der deutlich höhere Steuerforderungen bedingt.

Am 25. Januar 1937 tritt dann die sogenannte Verordnung über den Handel mit Vieh in Kraft, die jüdische Viehhändler aus dem Geschäftsleben ausschließt. Leopold ist es nicht mehr erlaubt, Nutztiere gewerblich zu kaufen und zu verkaufen. Nur der Erwerb für die private Nutzung ist noch gestattet.

Wegen dem Kauf einer einzigen Kuh wird der Viehwirtschaftsverband Rheinland tätig und fordert bei der Puderbacher Ortspolizeibehörde die Aufklärung des Sachverhalts. Leopold Aron hatte auf dem Waldbröler Viehmarkt ein Nutztier für seinen kleinen Landwirtschaftsbetrieb erworben. Wie nervenaufreibend und zermürbend müssen solche Schikanen für das Ehepaar gewesen sein!
Hausverkauf

Bereits im August 1938, vier Monate vor Inkraftreten der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens, sieht sich Leopold Aron dazu gezwungen, eines seiner Grundstücke zu veräußern. Es folgen weitere Verkäufe im Oktober. Am 8. November, zwei Tage vor der Pogromnacht, muß er den Vertrag zum Verkauf seines Hauses unterschreiben. Für gerade mal 7.300 Reichsmark soll das Gebäude an den Kraftfahrer Spies gehen. Später wird die Summe nochmal auf 5.000 RM gedrückt. Seine letzte erzwungene Veräußerung findet am 2. Dezember statt und wird die des Synagogengrundstücks sein. Von dem verwüsteten, niedergebrannten und gesprengten Gotteshaus befinden sich nur noch Grundmauern auf dem Gelände.

Am 29. Dezember stellt das Puderbacher Amt diese jüdische Kennkarte von Leopold Aron aus. Das stigmatisierende „J“ für Jude prangt auf der Vorder- als auch auf der Innenseite des Dokuments und seinem Vornamen wurde der Name „Israel“ angehängt.
Novemberpogrom 1938

Immer wieder muß ich an den Augenzeugenbericht von der damals neunjährigen Lotte Wolff denken. „Acht oder neun Familien waren zusammen in ein Haus gesteckt worden, wo sie auf Decken im Flur schliefen.“ Dieses besagte Haus ist das von Leopold und Johanna Aron.

Nach Beginn des Pogroms in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers 1938 hatte Bürgermeister Günther veranlasst, die jüdischen Bewohner in Schutzhaft zu nehmen und im Amtsgebäude einzusperren. Später verfrachtet man die völlig verängstigten und verstörten Menschen in das Haus der „Jonasens“.

„Was, wenn sie auch dieses Haus abbrennen?“, so fragen sich sicher auch Leopold und Johanna bang in den ungewissen Stunden bis zum nächsten Morgen.

Ausreise nach Johannesburg

Vermutlich haben die beiden schon vor den brutalen Ausschreitungen am 10. November 1938 mit dem in Südafrika lebenden Sohn Arthur beratschlagt, was in dieser prekären Situation am besten zu tun sei. Der Sohn rät zur Ausreise und bereitet alles für die Emigration vor. Im Februar 1939 ist es dann soweit. Die Arons verlassen Deutschland in Richtung afrikanischen Kontinent. Beide werden die alte Heimat nicht wiedersehen. Leopold Aron verstirbt bereits am 13. Juni 1943 im Kreise seiner Lieben.

Die Familie Albert Aron

Am 9. Juni 1865 bringt Amalie Aron ihr 3. Kind zur Welt. Es ist ein Junge und er erhält den Namen Anschel, was aus dem Hebräischen kommt und „der Glückliche“ bedeutet. Die Dorfbewohner aber werden ein leben lang Albert zu ihm sagen. Wie alle Kinder des Dorfes besucht er bis zum 14. Lebensjahr die Puderbacher Volksschule. Nach seinem Schulabschluß hilft er zunächst dem Vater Jonas auf dem Hof und in der koscheren Metzgerei aus.

Dieses wunderschöne Doppelportrait, das um das Jahr 1914 enstanden sein dürfte, zeigt das Ehepaar Anschel und Rebekka Aron geb. Rosenthal.
Heirat

Wie er die am 8. April 1870 geborene Rebekka Rosenthal aus Philippstein kennenlernt, ist leider nicht überliefert. Am 8. Juni 1896 findet ihre Trauung im Standesamt von Braunfels bei Wetzlar statt. Das frischvermählte Paar zieht im Anschluß in den kleinen Fachwerkhof an der Steimeler Straße 2 und betreibt in bescheidenem Maße Landwirtschaft und ein wenig Viehandel. Hier kommen auch die beiden Söhne Julius (1897) und Ludwig (1898) zur Welt.

Auf dieser Detailaufnahme des Mühlendorfes aus den 1930er Jahren entdeckt man in der Mitte des Bildes den Hof der „Alberts“, bestehend aus dem kleinen Wohnhaus im Fachwerkbau und einem Stall nebst Scheune (siehe Punkt). Das langgezogene Gebäude in unmittelbarer Nähe rechts ist die Bäckerei der Familie Loh.
Am 5. Februar 1908 verkauft Albert Aron den Geschwistern Adam und Karl Oettgen aus Oberdreis einen Ochsen mit aufstehenden Hörnern und gelber Farbe. Da die Brüder nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen, vereinbaren die Männer ein Zahlungsziel für den 1. Februar 1909 und einem fünf prozentigen Zinssatz. Doch ein Jahr später scheint die Summe noch nicht aufgebracht zu sein und Albert gewährt den Geschwistern Oettgen einen weiteren Aufschub. Zur eigentlichen Auszahlung des Geldbetrags kommt es dann erst dreieinhalb Jahre später im Oktober 1911.
Persönliche Schicksalsschläge

Der Familie bleiben nur wenige glückliche und unbeschwerte Momente. Im Jahr 1922 trifft Albert und Rosa der erste Schicksalsschlag. Ihr ältester Sohn Julius stirbt viel zu früh mit gerade mal 25 Jahren. Woran ist leider nicht bekannt.

Um 1928 entsteht dieser Schnappschuß des rund 14jährigen Otto Beckers, der mit seinem Rad die Steimeler Straße herunterkommt. Im Hintergrund erhaschen wir einen Blick auf das kleine, aber wunderschöne Fachwerkhaus der „Alberts“.

Am 9. Mai 1935, die Nationalsozialisten sind bereits drei Jahre an der Macht und haben die jüdische Bevölkerung auf vielfache Weise diskriminiert und schikaniert, macht sich Albert Aron mit zwei Kühen auf den Weg in den Wald, um Holz zu schlagen. Er wird nicht lebend wieder zurückkehren. In der Nähe des sogenannten „Aubergs“ erleidet er einen Herzschlag und fällt tot um. „Ich sehe heute noch die Kiefern, wo er gelegen hat“, so berichtete mir der Bruder meiner Großmutter.

Die vorliegende Todesanzeige informierte alle Verwandten und Bekannten über das plötzliche Ableben von Albert Aron.

1937 folgt für Rosa Aron das nächste Unglück. Am Dienstag, den 22. Juni verstirbt Ihr noch unverheirateter Sohn Ludwig mit gerade mal 37 Jahren im Gießener Uni-Klinikum. Die Todesursache ist auch in diesem Falle nicht bekannt. Er ist die letzte Person, die auf dem kleinen jüdischen Friedhof in Puderbach zu Grabe getragen wird.

Auf dieser Aufnahme sehen wir als 2. Person von links den 1898 geborenen Ludwig Aron. Er, sowie die anderen Personen auf der Fotografie, haben sich fein angezogen und scheinen einen Spaziergang zu unternehmen. Links neben ihm steht seine Couinse Ruth Aron verh. Tobias. Auf seiner rechten Seite folgen Martha Aron verh. Wolff, die Schwester Ruths, Leo Tobias, Leos Schwester Betti verh. Kahn und der an Tuberkulose leidende Hugo Aron, ebenfalls ein Cousin.

Wie soll es nun weitergehen? So wird sich Rosa sicherlich auch gefragt haben. Den Hof mit seinen Weide- und Ackerflächen kann die bereits 67jährige nicht alleine bewirtschaften. Zudem machen die nationalsozialistischen Gesetze und Beschränkungen, die der jüdischen Bevölkerung auferlegt werden, einen Viehhandel unmöglich. Ihr Schwager Leopold Aron hat das am eigenen Leib erfahren.

Fanal der Gewalt

Am Morgen des 10. November 1938 wird Rosa Aron vermutlich früh aufgestanden sein, um die Tiere auf dem Hof zu versorgen. Vielleicht hat sie auch schon eine Kleinigkeit gegessen, als plötzlich eine Unruhe im sonst so ruhigen Dorf entsteht. Sie vernimmt lautes Krachen und ein Splittern von Glas. Beim Blick aus dem Fenster mag sie andere Dorfbewohner eilig Richtung Dorfmitte laufen sehen. Was mag geschehen sein? Ob sie den Nachbarn Richtung Mittelstraße folgt? Oder wendet sie sich verschreckt an ihren Schwager Leopold und seine Frau Johanna, die in unmittelbarer Nähe wohnen? Kurz nach 9 Uhr hat eine Schar aus nationalsozialistischen Parteigenossen und linientreuen Dörflern begonnen, die Geschäfte und Wohnhäuser der jüdischen Einwohner Puderbachs zu plündern und zu demolieren. Die Ermordung des Gesandtschaftsrat Ernst v. Rath in Paris wird zum Anlass genommen, Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung auszuüben. Ein Zeitzeuge berichtet wie folgt:

„Die Zerstörungen in allen jüdischen Geschäften und Häusern mit Worten zu beschreiben, ist nicht möglich. Alle Schaufenster wurden zertrümmert, Möbel und sonstige Gegenstände zerschlagen, Schränke ausgeräumt und eiserne Geldschränke aufgebrochen. Weiber und Jugendliche durchstöberten die Häuser und das es dabei nicht an Dieben fehlte, ist leicht erklärlich. Die Polizei ließ sich dabei nicht sehen oder sah (mußte) stillschweigend zu(sehen). Alsdann schreckten dieselben auch nicht vor der Synagoge zurück, zerrissen und zerstörten gottesdienstliche Bücher und steckten sie dann in Brand… Es ist unerklärlich, wie Männer unseres Ortes, welche zu dieser Zeit die Geschicke unserer Heimat zu lenken gedachten, sich zu einem solchen Werk hinreißen ließen.“

Auf dieser Luftaufnahme Puderbachs aus den 1930er Jahren, kann man gut den Weg der Zerstörungen am 10. November 1938 verfolgen. Es beginnt morgens gegen 8 Uhr mit einer „Lagebesprechung“ der nationalsozialistischen Parteimitglieder und Beamten unter Führung des NSDAP Ortsgruppenleiters Piorek im Gasthof Kasche (1). Gegen 9 Uhr verlässt die Gruppe die Gastwirtschaft und beginnt ihr Zerstörungswerk mit Hilfe zahlreicher Dorfbewohner. Zunächst nimmt sich die Horde das Wohn- u. Geschäftshaus der Familie Hermann Wolff vor (3). Es folgt das Haus der Familie Adolf Aron (5). Die Witwe Selma Bär und ihre Tochter Ilse (4) haben das große Glück, daß sich ein beherztes Parteimitglied der Zerstörung verweigert. Zudem hat sich ein NSDAP Mitglied bei der Witwe Bär eingemietet und hofft, daß Haus in Bälde zu übernehmen. Der Mob zieht weiter zur Synagoge (6) und setzt diese in Brand. Einige vandalierende Einwohner bewegen sich die Mittelstraße zurück, dringen in das Haus des alleinstehenden Albert Bär ein (2) und zünden es an. In der Folge wird die Menge ins Mühlendorf weitergezogen sein und sich die Anwesen von Rosa Aron (7), Leopold Aron und des Ehepaars Tobias (10) vorgenommen haben. Die im Dorf verbliebenen jüdischen Einwohner sperrt man derweil im Amtsgebäude (9) ein, bevor sie am Nachmittag ins „Jonassens“ Haus (8) verfrachtet werden.

Alle Männer unter 60 Jahren wurden zu Beginn der Aktion verhaftet und mit LKWs nach Neuwied verbracht. Die übrigen jüdischen Dorfbewohner Puderbachs und der umliegenden Ortschaften, Frauen, Kinder und Alte, nimmt man in sogenannte Schutzhaft und sperrt sie im Amtsgebäude ein. Später werden sie in das Wohnhaus von Leopold Aron verfrachtet und verbringen dort eine qualvoll lange Nacht voller Sorge um das eigene Leben und das der Verhafteten.

Bleiben ist keine Option

Nach diesem traumatischen Ereignis stellt sich für Rosa Aron umso dringlicher die Frage, wie es weitergehen soll. Wer es sich finanziell leisten kann, versucht, ins Ausland zu fliehen, wie Ihr Schwager Leopold Aron und seine Frau Johanna, die Deutschland Anfang 1939 in Richtung Südafrika verlassen. Auch Adolf Aron und seine Frau Thekla übersiedeln Mitte 1939 nach Köln, um von dort die Ausreise zu ihren Kindern in die USA voranzutreiben.

Sie beschließt, zu ihrem in Gießen lebenden Bruder zu ziehen. Marcus Rosenthal und seine Frau Rosa geb. Reich waren 1910 von Philippstein ins 34 km entfernte Gießen gezogen. Er war Kaufmann und führte eine Großhandlung für Mühlenfabrikate, Futter- und Düngemittel, später auch Woll- und Baumwollwaren. Durch die Verordnung Zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben wird auch er gezwungen, sein Geschäft aufzugeben uns zu veräußern. Seinen Sohn Ludwig, der bis 1933 als Rechtsanwalt arbeitete, hatte man bei den Auschreitungen in der Pogromnacht verhaftet und für 9 Wochen ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Am 5. September 1939 meldet sich Rosa Aron bei der Puderbacher Verbandsgemeinde ab und zieht in das Haus ihres Bruders in die Alicenstraße 40 nach Gießen.

„Alberts“ Hof wird zum Judenhaus

Am 5. Juni 1940 geht im Bürgermeisteramt Puderbach ein Schreiben ein. Der neue Besitzer des Anwesens der Familie Hermann Wolff wird vorstellig und bittet die Gemeinde, die einquartierten jüdischen Familien Cahn und Jakob anderweitig unterzubringen. Er schreibt:

„Ich habe den beiden Familien am 24. Mai mündlich gekündigt und zwar das sie am 1. Juni d.J. ausziehen sollten. Die Juden wohnen aber immer noch in dem Haus und haben meines Wissens noch nichts unternommen, um daraus zu verschwinden. Ich bitte nun die Polizeiverwaltung Puderbach, die den Juden dort ihre Wohnung angewiesen hat, dafür zu sorgen, daß die beiden jüdischen Familien aus meinem Hause verschwinden.“

Die Familien Sigmund Jakob aus Urbach und Max Cahn aus Daufenbach waren auf Grund der schweren Ausschreitungen in der sogenannten „Pogromnacht“ wohnungslos geworden. Besonders die Zerstörungswut an dem Anwesen der Jakobs ist kaum in Worte zu fassen. Da man es auf Grund nahestehender Nachbargebäude nicht niederbrennen konnte, hatte man das Gefache des Facherkbaus mit Spitzhacken komplett herausgeschlagen.

11 Tage später ergeht ein Schreiben an die in Gießen lebenden Rosa Aron. Darin heißt es:
„Durch den Verkauf des Anwesens Wolff müssen die dort untergebrachten Juden anderweitig untergebracht werden. Da geeignete Räume nicht zur Verfügung stehen, muß Ihr Haus für die Übersiedlung beschlagnahmt werden. Bei dieser Gelegenheit hielt ich es für richtig, wenn Ihr Anwesen aufgekauft würde. Ich bitte um Mitteilung, daß Sie mit der erstbesprochenen Maßnahme enverstanden sind und um Angabe, ob Sie bereit sind, Ihr Anwesen zu verkaufen.“

Rosas Antwort lässt nur wenige Tage auf sich warten. Recht selbstbewußt schreibt sie, daß Verkaufsverhandlungen mit Interessenten in Gange währen, somit ein Verkauf des Anwesens an die Gemeinde zur Zeit nicht in Frage komme. Sie erlaubt der Gemeinde aber, ihr die näheren Bedingungen zum Ankauf des Hauses zukommen zu lassen. Zudem stimmt sie der Unterbringung der beiden Familien als Mieter zu, verlangt aber eine angemessene, ortsübliche Miete.

Hier das Originalschreiben mit der Unterschrift Rosa Arons. Auch sie war seit dem 1. Januar 1939 dazu gezwungen, ihrem Vornamen den „typisch jüdischen“ Namen Sara hinzuzufügen. Neben den Verhandlungen um das Haus schreibt sie über einen Beinbruch, den sie sich im Januar 1940 zugezogen hatte und somit noch nicht zum Ausräumen ihres Hausrats gekommen sei.

Aus einer späteren Anfrage des Landratsamtes vom Mai 1941 bezugnehmend auf die „Entjudung des Grundbesitzes“ geht hervor, daß Rosa Aron immer noch Eigentümerin des Hauses an der Steimeler Straße 2 ist.

Alicenstraße 40 in Gießen

Es ist zu vermuten, daß Marcus Rosenthal sein Haus in der Alicenstraße bereits im Laufe der Jahre 1939 bzw. 1940 zwangsweise hat verkaufen müssen. Glücklicherweise wurde der Familie, und somit auch Rosa Aron, erlaubt, zur Miete in dem Gebäude wohnen zu bleiben.

Doch die Repressalien der Nazis nehmen kein Ende. Seit dem 1. September 1941 sind alle Juden auf deutschen Staatsgebiet dazu gezwungen, einen gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ zu tragen. Wie beschämend mag das für Rosa und ihr Lieben gewesen sein. Am 15. November desselben Jahres erfolgt der nächste Schlag. An die Rosenthals ergeht ein Schreiben, daß sie die Wohnung umgehend zu räumen haben. Es wird ihnen behördlicherseits eine neue Unterkunft im Judenhaus in der Landgrafenstraße 8 zugewiesen. Auch Rosa verliert ihre Bleibe und muß erschrocken feststellen, daß man sie von ihren verbliebenen Verwandten trennt. Sie muß in ein anderes Judenhaus in der Liebigstraße 37 einziehen.

In der Liebigstraße 37 (siehe roter Punkt) verbringt Rosa Aron ihre letzten Monate vor der Deportation. (Beitrag vom 7.07.2022)
Deportation

Im September 1942 erhält Rosa Aron, sowie ihr Bruder Marcus mit Familie die schriftliche Aufforderung, sich für die „Umsiedlung“ im Osten bereitzuhalten. Neben einer festgelegten Menge an Gepäck sollen die betreffenden Personen Verpflegung für mindestens 6 Tage und Essgeschirr mitführen. Voller Sorge und mit einer großen Ungewissheit, was wohl die Zukunft bringt, bereiten sie sich auf ihre Abreise vor.

Zunächst verbringt man die Gießener Juden nach Darmstadt, wo die Weiterfahrt erwartet wird. Am 27. September geht der Transport zwecks „Wohnsitzverlegung“ mit 1287 zumeist älteren Jüdinnen und Juden Richtung Ghetto Theresienstadt ab. Auf der Liste befinden sich Rebekka Aron, sowie ihr Bruder Marcus Rosenthal und dessen Frau Rosa. Ludwig wird drei Tage später, am 30. September deportiert. Bis heute ist nicht ganz klar, wohin ihn der Zug mit 924 anderen Männern, Frauen und Kindern führte. Man geht davon aus, daß alle Personen des Transports ins Vernichtungslager Treblinka gebracht und dort sofort vergast wurden.

In Theresienstadt müssen im September 1942 unbeschreibliche Verhältnisse geherrscht haben. Die im 18. Jahrhundert erbaute Garnisonsstadt, bietet vor der Umwandlung in ein Ghetto rund 7000 Menschen Raum. Nun hat man 58.000 zumeist ältere Menschen nach hier deportiert. Viele von Ihnen besitzen nicht einmal einen eigenen Schlafplatz. Die Verpflegung mit Lebensmitteln und Medikamenten ist völlig unzureichend.

Laut der Datenbank der Gedenkstätte Theresienstadt verstirbt Rosa Aron geb. Rosenthal am 11. Januar 1943, keine drei Monate nach Ankunft im Ghetto. Die Todesumstände sind ungeklärt. Vier Tage vor ihr, am 8. Januar, starben bereits ihr Bruder und die Schwägerin. Möglicherweise erliegen die drei dem Hunger oder einer Krankheit. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß sie durch einen Freitod der Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz entgehen wollten.

Das Haus in der Steimeler Straße 2 fällt auf Grund der 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes „mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland“, das heißt in diesem Fall mit ihrer erzwungenen Deportation, dem Deutschen Reich zu. Welch ein Hohn!

Links:

Der Grabstein Albert und Ludwig Arons auf dem kleinen jüdischen Friedhof in Puderbach

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20254/Puderbach%20Friedhof%20440.jpg

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20254/Puderbach%20Friedhof%20443.jpg

Stolperstein für Rebekka Aron geb. Rosenthal in der Alicenstraße 40 in Gießen

https://www.giessen.de/Erleben/%C3%9Cber-Gie%C3%9Fen/Stolpersteine/Alicenstra%C3%9Fe-40.php?object=tx,2874.1320.1&ModID=7&FID=2874.1183.1&NavID=2874.396&La=1

Rebekka Arons Name auf der Deportationsliste vom 27. September 1942 ins Ghetto Theresienstadt

http://www.statistik-des-holocaust.de/TT420927-1.jpg

Über das Ghetto Theresienstadt

https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Theresienstadt

Eintrag Rosa Aron geb. Rosenthal in der Datenbank Gedenkstätte Theresienstadt

https://www.pamatnik-terezin.cz/prisoner/te-aron-rebecka

Die Familie der Jette Aron verheiratete Wolff

Die am 13. Dezember 1860 geborene Jette ist das zweite Kind des Metzgers Jonas Aron und seiner Frau Amalie. Wie ihre sechs Geschwister besucht auch sie vom 6. bis zum 14. Lebensjahr die Puderbacher Volksschule. Den jüdischen Religionsunterricht erteilt vermutlich Lehrer Stamm aus Dierdorf, möglicherweise in der Betstube im „Kullen“ Haus an der Steimeler Straße. In den darauffolgenden Jahren werden die Eltern nach einem passenden Ehemann Ausschau gehalten haben.

Ehemann aus Rheinbrohl

Sie finden ihn in dem aus Rheinbrohl bei Neuwied stammenden Kaufmann Salomon Wolff. Um 1889 treten die beiden vor den Rabbiner, höchstwahrscheinlich in der kleinen Rheinbrohler Synagoge, deren Geschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. In Rheinbrohl kommen auch die beiden gemeinsamen Kinder zur Welt, der am 2. August 1890 geborene Sohn Hermann und die drei Jahre jüngere Tochter Johanna.

Doch bereits um 1896 siedelt die Familie nach Puderbach über. Sie ziehen in ihr neu errichtetes Wohn- und Geschäftshaus auf der damaligen Bismarckstraße (heute Mittelstraße) und eröffnen einen Kolonialwarenladen nebst Schreibwarenhandlung und Schuhsalon.

Ein altes Schulfoto aus Puderbach, daß um 1897 entstanden sein dürfte und u.a. den um die sieben Jahre alten Hermann Wolff zeigt, vorne in der 1. Reihe als 3. von links.
Erster Schicksalsschlag

Bereits 1910 ereilt die „Jiddsches“, so lautete der Rufname der Wolffs unter den Puderbachern, ein erster Schicksalschlag. Der gerade mal 51 Jahre alte Salomon verstirbt vermutlich für alle unerwartet und plötzlich. Jette führt das Geschäft nun alleine weiter, unterstützt von Sohn Hermann, der Verkaufsfahrten mit dem Fahrrad in die umliegenden Dörfer unternimmt.

Diese nicht ganz scharfe Detailansicht der damaligen Bismarckstraße zeigt auf der rechten Seite das stattliche Wohn- und Geschäftshaus der Familie Wolff. Links neben dem Eingang gab es ein großes Schaufenster, durch das genügend Licht in den Laden fiel und indem man bestimmte Waren präsentieren konnte. Ob das wohl das „Jille Jettchen“ ist, die auf der großen Eingangstreppe zu sehen ist? Die Aufnahme selbst dürfte um 1913 entstanden sein.
Geschichte mit dem Ölfäßchen

Einige Anekdoten und Geschichten über das „Jille Jettchen“ und ihre Familie haben die Jahrzehnte überdauert. Zu ihnen gehört eine Erzählung aus den 1920er Jahren. Sie zeugt von den einfachen und kargen Lebensverhältnissen der Landbevölkerung.

Zum Sortiment des Lebensmittelgeschäfts gehörten auch Speiseöle, die in kleinen Fäßchen angeliefert und dann an die Kundschaft ausgegeben wurden. Solch ein Faß machte sich selbstständig, rollte aus der offenen Ladentür, stürzte die steile Treppe hinunter und zerbrach auf der damals noch nicht asphaltierten Straße. Das Speiseöl, daß sich in den Furchen und Rillen des Weges sammelte, wurde eilends von heranlaufenden Nachbarn, die von dem Missgeschick hörten, mit Tassen und anderen Behältnissen aufgefangen und nach Hause gebracht.

Ein Blick auf die Bismarck- bzw. Mittelstraße um 1930. Das schicke Gefährt im Vordergrund stammt von der Lebensmittelfirma Clever Stolz und scheint den Gasthof Kasche mit Margarine beliefert zu haben. Aber auch die „Jiddsches“ dürften mit solchen kleinen Lastkraftwagen und deren Erzeugnissen versorgt worden sein. In der Bildmitte erkennen Sie mit heller Fassade das Geschäftshaus der Wolffs.
Eigene Familien

Jettes Kinder gründen in den 1920er Jahren eigene Familien. Die Tochter Johanna heiratet den aus Koblenz stammenden Bruno Daniel und verzieht nach dort. Hermann und seine aus Steinfischbach in Südhessen stammende Frau Mathilde geb. Steinberg bleiben hingegen in Puderbach wohnen. Am 8. Januar 1922 kommt hier die gemeinsame Tochter Ilse zur Welt. Vier Jahre später, am 25. April 1926, folgt ein Sohn, der den Namen Günther erhält.

Integriert

Wie alle jüdischen Familien Puderbachs sind auch die „Jiddsches“ im Alltagsleben des Dorfes völlig integriert und akzeptiert. Beispielhaft sei die Mitgliedschaft Hermann Wolffs im hiesigen Turnverein erwähnt. Vermutlich seid seiner Jugendzeit nimmt er an den sportlichen wie privaten Aktivitäten des Vereins teil. Auch seine beiden Kinder treten dem Sportverband bei.

Um 1930 unternehmen Mitglieder des Puderbacher Turnvereins einen sonntäglichen Ausflug. Wohin es die Gruppe geführt hat, ist leider nicht überliefert. Von links nach rechts sind zu sehen: mglw. Kurt Bär, Emil Herzog, mit Spazierstock Hermann Wolff, Emilie Bay verh. Lamberti, vorne Willi Zerres, rechts daneben Ernst Bachenberg, dahinter Frau Kölbach, ganz hintern Robert Lamberti, rechts daneben Herr Kölbach und Anna Mühlbach verh. Bachenberg.
Ausschluß

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) im Januar 1933 und der sukzessiven Aushebelung jedweder demokratischer Strukturen endet das friedliche Alltagsleben der Wolffs abrupt. Im vorauseilendem Gehorsam, ohne eine staatliche Vorgabe abzuwarten, nimmt der Dachverband der Deutschen Turnerschaft bereits im April 1933 den Arierparagraphen in seine Satzung auf und entzieht Hermann, Ilse und Günther die Mitgliedschaft.

Geschäftsboykott

Am 1. desselben Monats mußte die Familie bereits erleben, wie Mitglieder von NSDAP, SA, HJ bzw. des Stahhelms sich vor dem Ladengeschäft postieren, Schilder mit „Wehrt Euch, kauft nicht bei Juden“ in die Höhe strecken und Passantinnen und Passanten am Betreten des Geschäftes hindern. Dies sind nur zwei von zahllosen Restriktionen, die die Wolffs in den nächsten Jahren ereilen und ein normales Alltagsleben unmöglich machen.

Nach kurzem, schweren Leiden

Zu den auferlegten Belastungen des Alltags kommt ein Todesfall, der die Familie sehr getroffen haben muß. Die von allen geliebte Mutter und Großmutter Jette stirbt am 10. Juli 1934 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren.

¼Diese Todesanzeige informierte Verwandte, Bekannte und Dorfbewohner über den Tod des „Jille Jettchen“.
Schulalltag für Ilse und Günther
Ein Schulfoto noch aus glücklicheren Tagen. Das Bild entstand vermutlich 1932 und zeigt u.a. den gerade eingeschulten Günther (1) und seine vier Jahre ältere Schwester lse (2). Bei der Lehrerschaft handelt es sich links um das Fräulein Kölb, die bereits in den 1920er Jahren die Puderbacher Kinder unterrichtete, und hinten rechts um Lehrer Neitzert, der für die beiden jüdischen Wolff-Geschwister nur Hohn und Spott übrig hatte.


Vermutlich hätten Hermann und Mathilde ihre beiden Kinder gerne vor den antijüdischen Auswüchsen der Nazizeit bewahrt. Doch die beiden Geschwister sind auch im Schulalltag den antisemitischen Anfeindungen und Böswilligkeiten von Lehrern und Mitschülern ausgesetzt. Frau Neidhard, eine Klassenkameradin, erinnerte sich, daß jedesmal, wenn sich Günther beim Klassenlehrer Neitzert zum jüdischen Religionsunterricht abmelden und den Schulsaal verlassen wollte, dieser höhnisch zu lachen begann und die Klasse in das Gelächter einstimmte. Begleitet vom diesem verhöhnendem Gelache verließ er den Raum.

Ein weiteres Schulfoto, vermutlich entstanden um 1936 anlässlich eines Schulausflugs. Ganz rechts außen, mit der Nummer 1, sehen wir Günther Wolff. Im Gegensatz zu seinen fröhlich und heiter dreinschauenden Klassenkameraden wirkt er ernst, abwesend, ja isoliert.

Der auch in Puderbach wohlbekannte Heimatforscher Dr. Albert Hardt berichtet in seinem Buch „Im Land der Neuerburg an der Wied“ über die Anfeindungen gegenüber  jüdischen Schülerinnen und Schülern an der Schule in Waldbreitbach. Sie stehen exemplarisch für die Erfahrungen, die vermutlich auch Ilse und Günther gemacht haben. Er schreibt:


„Demütigungen und hetzerische Auslassungen, Hänseleien waren an der Tagesordnung. Die jüngsten Schüler der Familien Jonas und Levy hatten vieles auszustehen. Schlimme Schlägereien und Böswilligkeiten – unter Zuhilfenahme von Schulterriemen und Koppeln der HJ-Kleidung, beim Aufenthalt im Schulhof oder auf dem Heimweg – waren je nach Auswirkungen der Parteipropaganda und der Einflußnahme der Hetzschriften fortan üblich. Die 8-, 10- und 12jährigen Schüler – Ilse Levy, Ernst Levy, Siegbert Jonas – kamen verschüchtert und verängstigt auf den Schulhof, sonderten sich ab, waren Tag um Tag und Woche um Woche mit Angst erfüllt, da in ihrem Elternhaus vermutlich auch schon die schmerzlichen Spuren des Antisemitismus empfunden wurden und eine böse Ahnung sich breitmachte.“

Fortsetzung folgt…

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