Friedrich Karl Sanner
Am 16. Februar 1843 kommt in Seelbach mein Ururgroßvater Friedrich Karl Sanner unter tragischen Umständen zur Welt, denn seine Mutter Maria Gertraude geb. Hommer stirbt an den Folgen der schweren Geburt. Kein Einzelschicksal, da bis zur Jahrhunderwende 300 bis 500 Mütter je 100.000 Lebendgeborene bei der Entbindung versterben.
Ich frage mich, wie es der Familie danach ergangen sein mag. Macht man den Säugling für den Tod der Ehefrau und Mutter verantwortlich? Kümmert sich die älteste Schwester um die jüngeren Geschwister?
Der Vater Matthias
Der Vater Matthias Sanner ist zu der Zeit Beigeordneter der Bürgermeisterei im angrenzenden Flammersfeld. 1842 übernimmt er das Amt des Bürgermeisters und übergibt es 1848 seinem Nachfolger Friedrich Karl Raiffeisen, der später berühmt gewordene Sozialreformer und Gründer der genossenschaftlichen Bewegung in Deutschland.
Wehrpflicht
Seit 1815 gehört der Westerwald zum Königreich Preußen und somit besteht für alle jungen Männer eine Wehrpflicht, die auch Friedrich Sanner ableisten muß, vermutlich in der Festungs- und Garnisonsstadt Koblenz am Rhein.
Königgrätz
Auf Grund der Fotografie, die meinen Ururgroßvater mit dem „Königgrätz“-Orden zeigt, können wir davon ausgehen, daß er mit 23 Jahren am Deutschen Krieg teilnimmt, der siebenwöchigen Auseinandersetzung zwischen Preußen und seinen Verbündeten auf der einen und Österreich und dem deutschen Bund auf der anderen Seite. Sie gipfelt in der Schlacht bei Königgrätz, aus der der preußische König Wilhelm I. als Sieger hervorgeht und die die Gründung des Norddeutschen Bundes zur Folge hat.
Deutsch-Französischer Krieg
1870 bis 1871 kommt es zum Deutsch-Französischen Krieg, an dem mein Vorfahre ebenfalls teilnimmt. Wo er eingesetzt wird oder wie er die Kriegshandlungen erlebt, ist nicht überliefert. Die allgemeine patriotische Begeisterung nach dem Sieg gegen den „Erbfeind“ Frankreich ist grenzenlos und mündet am 18. Januar in die Reichsgründung, bei der der preußische König Wilhelm I im Spiegelsaal des Versailler Schloßes zum deutschen Kaiser proklamiert wird.
Die untenstehende Liste zeigt, daß es neben den Helden der Schlachten auch die gefallenen Soldaten gab, deren Familien um ihre Söhne, Männer und Väter trauerten.
Braut aus Puderbach
Wie meine Ururgroßeltern sich kennengelernt haben ist leider nicht belegt. Wurde die Ehe von deren Eltern arrangiert, was nicht selten vorkam? Wenn ich mir jedoch die vergilbte Atelier-Fotografie anschaue, die die beiden anlässlich ihrer Hochzeit zeigt, seine Hand vertraut auf ihrer Schulter liegend, dann scheint es, daß wohl doch Liebe im Spiel war.
Heirat und fünf Kinder
1880 heiratet Friedrich Karl Sanner die am 22. Oktober 1854 in Puderbach als Zwilling geborene Dorothea Müller, Tochter von Christian Müller u. Maria Elisabeth geb. Born. Dem Paar werden 5 Kinder geboren, beginnend mit Otto Sanner am 20. Mai 1881, der schon 1892 an Diphtherie verstirbt. 1883 und 1884 folgen zwei totgeborene Kinder, was für die Wöchnerin traumatisch gewesen sein muß. Am 22. November 1885, ein Sonntag, der den Sanners als denkwürdig kalter Tag in Erinnerung bleibt (der Boden war schon tief gefroren), kommt um vier Uhr Nachmittags meine Urgroßmutter Karoline (Kalin oder Kalinchen genannt) zur Welt. Und dann im Jahr 1888 eine weitere Totgeburt.
Drei wie man heute sagt Stillgeburten, dreimal Versagens- und Schulgefühle der Mutter. Dann stirbt der älteste Sohn mit gerade mal 11 Jahren an der sogenannten Halsbräune, eine Infektionskrankheit, die die oberen Atemwege befällt. Die Erkrankten leiden an erschwerter Atmung, starkem Husten, zunehmender Heiserkeit, eitrig blutendem Schnupfen.
Vorbelastet
Die Mutter Dorothea weiß ganz genau, was es heißt, wenn Mütter und Kinder zu früh versterben. Denn ihrem 1812 geborenem Vater Christian Müller wird nicht nur seine erste Frau genommen, die bei der Entbindung des 7. Kindes stirbt, sondern auch alle gemeinsam gezeugten Nachkommen. 1851 heiratet er dann die Schwester seiner Frau, meine Urururgroßmutter Maria Elisabeth Born. Von den in dieser kurzen Ehe (Christian verstirbt 1855) geborenen drei Kindern, erreicht das Erwachsenenalter nur meine Ururgroßmutter Dorothea. Einzig und allein ihr Halbbruder Christian Born bleibt ihr als naher Verwandter erhalten. Er gehört zur Verwandtschaftslinie der „Herwetspittersch“.
Angst um das Kind
Man kann sich ausmalen, daß das Paar mit besonders großer Sorge auf das verbleibende Kind geschaut hat. Und bereits in den ersten Lebensjahren meiner Urgroßmutter werden die Befürchtungen wahr.
Hörfehler
Ob der Hörfehler, der bei dem kleinen Mädchen auftritt, sich bereits mit der Geburt einstellt oder durch eine Erkrankung ausgelöst wird, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Auf jeden Fall holen sich die Sanners ärztlichen Rat. Da es in Puderbach selbst keinen Doktor gibt, fahren sie wahrscheinlich ins angrenzende Dierdorf, nach Altenkirchen oder in die Kreisstadt Neuwied am Rhein. Der Arzt bestätigt den Eltern den starken Hörfehler des Kindes, der nur durch eine Operation behoben werden kann.
Was tun? Einen Eingriff vornehmen? Man ahnt schon, daß die Sanners nach dem Verlust von vier Kindern solch einen damals noch riskanten Eingriff nicht wagen. Man nimmt das schlechte Gehör billigend in Kauf.
Kindheit
Ansonsten verläuft die Jugend meiner Urgroßmutter wie die aller Kinder im ländlichen Bereich. Vom 6. bis zum 14. Lebensjahr besucht sie die Volksschule im Ort geführt von Lehrer Becker. Der Unterricht findet im gerade neu errichteten Schulgebäude statt, dessen Bau im Jahr 1891 fertiggestellt wurde.
Freizeit wie im heutigen Sinne haben die meisten Minderjährigen nicht. Sie müßen ihren Eltern auf den Höfen helfen, misten die Kuhställe aus, füttern die Tiere, wenden das frischgemähte Heu oder jäten Unkraut auf den Feldern. Nur die Abendstunden und der Sonntag nach dem obligatorischen Gottesdienstbesuch früh um 10 Uhr bietet ein wenig Entspannung und Zerstreuung.
Konfirmation
1899 endet für meine Urgroßmutter nicht nur die Schulzeit. Am 28.03. desselben Jahres findet ihre Konfirmation in der Kirche zu Puderbach statt. Der Pfarrer der evangelischen Gemeinde ist Friedrich Mohn. Er prägt wie keiner seiner Vorgänger und Nachfolger die Geschicke des Kirchspiels.
Freundinnen
Hier sehen Sie einige der Freundinnen meiner Urgroßmutter, mit denen sie zur bleibenden Erinnerung eine Fotografie ausgetauscht hat. Zwei dieser Aufnahmen können Sie im Menüpunkt „Jüdisches Leben in Puderbach“ finden. Es handelt sich dabei um die beiden Schwestern Selma und Toni Bär, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bauernhof der „Sannersch“ wohnten.
Gemeindevorsteher und Feuerwehrgründer
1888 tritt Friedrich Sanner in die Fußstapfen seines Vaters und übernimmt in Puderbach das Amt des Gemeindevorstehers, kümmert sich bis zu seinem Ableben im Jahr 1912 um die Belange der Ortsbewohner, um das Wohlergehen der Dorfgemeinschaft. Zu seinen wichtigsten Amtshandlungen gehört die Gründung der Freiwilligen Feuerwehr im Jahre 1890.
Tod der Ururgroßeltern
Am 28. Dezember 1912 Nachmittags um halb drei Uhr verstirbt mein Ururgroßvater Friedrich Karl Sanner an den Folgen einer Lungenentzündung. Keine zwei Jahre später folgt ihm seine Ehefrau Dorothea am 9. Februar 1914. Auch sie verstirbt an einer Pneunomie.
Zweckentfremdet
Zu einer meiner liebsten Anekdoten gehört die über die alten Gesetzsbücher, die Friedrich Sanner in seiner Amtszeit als Gemeindevorsteher nutzte. Seine Tochter und deren Familie hatten für die Abhandlungen keine weitere Verwendung. Sie landeten im Klohäuschen des Bauernhofs und wurden für andere „Geschäfte“ zweckentfremdet.
Links:
Liste der Bürgermeister zu Flammersfeld
http://www.josef-zolk.de/index.php?page=362361367&f=1&i=362361367
Seelbach im Westerwald
https://de.wikipedia.org/wiki/Seelbach_(Westerwald)
Informationen zum Deutschen Krieg 1866
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Krieg
Informationen zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Franz%C3%B6sischer_Krieg
Puderbach im Westerwald