Jüdisches Leben in Puderbach / Die Geschwister Bär

Wie bereits im Vorwort erwähnt, wurde es mir nie leid, mit meiner Großmutter die Bilder der Familie zu betrachten und mir ihre Geschichten dazu anzuhören. Insbesondere die Atelier-Aufnahmen um die Jahrhundertwende bis zum Ende des 1. Weltkrieges faszinieren mich bis heute. Alles darauf scheint anders, die Frauen in bodenlangen Kleidern mit Puffärmeln, die Haare als straffen Dutt nach hinten oder onduliert und hochgesteckt getragen, die Männer mit ihren Kaiser-Wilhelm-Bärtchen und Anzug mit Weste und Taschenuhr.

Die Schwestern Toni und Selma Bär

Zwei Portraits zeigen Freundinnen meiner Urgroßmutter Karoline, die Schwestern Toni und Selma Bär, die in direkter Nachbarschaft wohnten, eine große Familie mit insgesamt 8 Kindern, 6 Söhne und die beiden Mädchen.

Die wunderschöne Fotografie von Toni Bär (später verh. Eiser) aufgenommen im Atelier Laux in Bendorf wahrscheinlich um 1905. Der Rufname der Familie lautete „Heims“, vermutlich abgeleitet von dem Großvater Heyum Bär.
Diese Karte schickte Toni Bär 1907 ihrer Freundin Klara Jonas nach Raubach. Sie schreibt: „Gruß aus Puderbach sendet Dir Deine Toni. Hoffentlich befindest Du Dich noch beim besten Wohle, desgleichen ich auch von mir berichten kann. Wir waren am Samstag in Selters auf dem Ball, Louis, Berthold (ihre beiden Brüder), Stern und ich, wo ich mich sehr gut amüsiert habe und habe ich daher gedacht, Du kämst auch dahin. Hoffentlich kommst Du bald einmal nach Puderbach, dann würde ich Dir Näheres erzählen von Selters. Wenn Du kommst, so komme Samstag. Es grüßt Toni“.

Toni scheint diejenige gewesen zu sein, die meiner Uroma näher stand, wahrscheinlich derselbe Jahrgang wie sie, im Jahr 1885 geboren. Aber was war aus den beiden Schwestern geworden? Vermutlich hatten sie geheiratet, aber in welche Gegend waren sie verzogen? Welchen Leidensweg sind sie in den Jahren 1933-45 gegangen? Meine Großmutter hatte keine weiteren Informationen.

Selma Bär (später verh. Behr) aufgenommen im Atelier Albert Eisele in Neuwied ebenfalls um 1905.
Königshoven

Erst viele Jahr später nach meinem Ausstellungsprojekt „Jüdisches Leben in Puderbach“ im Jahr 1995 konnte mir der Historiker und Erwachsenenpädagoge Herr Manfred Faust, dessen Familie väterlicherseits ebenfalls gebürtig aus Puderbach stammt, der lange Jahre als Leiter des Stadtarchivs Hürth tätig war und zu meinem großen Bedauern bereits verstorben ist, weitere Auskunft über den Verbleib der Schwestern Bär geben. Hinzu kommt die freundliche Unterstützung mit Bildern und auch weitergehenden Informationen durch Herrn Sittinger, ein profunder Kenner der jüdischen Geschichte Leimersheims.

Toni Bär, geboren am 19. März 1886, heiratet den aus Königshoven bei Bedburg am Niederrhein stammenden Hermann Eiser und soll bereits am 22. April 1922 dort verstorben sein.

Leimersheim
Hier sieht man den Ehemann von Selma Bär, den Schuhmacher und „Schammes“ (jidd. für Synagogendiener) Karl Behr.

Die am 24. September 1882 geborene Selma verschlägt es nach Leimersheim bei Karlsruhe. Sie heiratet am 30. Januar 1920 den Schuhmacher Karl Behr. Das kinderlose Ehepaar wohnt im 2. Stock der Synagoge und die beiden sorgen als Gegenleistung in dem Gotteshaus für Ordnung und Sauberkeit.

Hier steht der Schuster Karl Behr, mit Vornamen auch Kaleb genannt, vor der Leimersheimer Synagoge.

Beide müssen die Ausschreitungen in der Pogromnacht am 10. November 1938 miterleben. Karl Behr wird an diesem Abend mit drei anderen Männern in Schutzhaft genommen und für mehrere Wochen ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Die Inneneinrichtung der Synagoge wird völlig demoliert und somit wahrscheinlich auch die Wohnung der Behrs. 1939 verschlägt es die beiden dann nach Fürth bei Nürnberg. Hier leben sie in der Hindenburgstraße 3, vermutlich in einem sogenannten Judenhaus, bis zu ihrer Deportation am 22. März 1942 nach Izbica in Polen. 17000 Menschen werden in den Monaten März bis Juni 1942 in das Transitghetto verfrachtet, in eine Kleinstadt, die vor dem 2. Weltkrieg 6000 Menschen Platz bot. Von hier aus gehen die Transporte in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor. Da man ihren genauen Leidensweg nicht rekonstruieren kann, werden sie nach dem Krieg als verschollen gemeldet.

Links:

Über die jüdischen Familien Leimersheim

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20427/Leimersheim%20Rheinpfalz%209.11.2018.jpg

Karl und Selma Behr bei den jüdischen Fürthern gelistet

https://juedisch-in-fuerth.repositorium.gf-franken.de/de/personen.html?suchort1=Alle&suchbegriff1=&logik2=und&suchort2=familienname&suchbegriff2=Behr&logik3=und&suchort3=vorname&suchbegriff3=&sortierung=Familienname&order=ASC

Ghetto Izbica

https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Izbica

Die Familie Aron Bär

Eine sehr alte Aufnahme Puderbachs vermutlich aus dem Jahr 1887. Etwas versteckt mit einem Punkt versehen das Wohnhaus des Aron Bär und seiner Familie, später das Heim der beiden ledig gebliebenen Söhne Albert und Gustav.

Doch gehen wir nochmals zurück und schauen uns die Familie Bär genauer an. Wie bereits erwähnt sind Toni und Selma Bär zwei von acht Kindern des am 23. Mai 1839 in Puderbach geborenen Schächters (koscherer Metzger) Aron Bär und seiner 1848 geborenen Frau Rosa geb. Wolf. Seine erste Frau, die aus Oberdreis stammende Guda Jetta Tobias, verstirbt vermutlich kurz nach der Hochzeit im Jahr 1874. In der 2. Ehe folgen die Kinder in rascher Folge. 1878 erblickt Louis Bär das Licht der Welt, 1882 die bereits erwähnte Selma, 1884 kommt der behinderte Gustav zur Welt, vermutlich 1885 das Mädchen Toni, 1887 Albert, 1890 Berthold und 1891 Otto Bär. Das Geburtsjahr des Sohnes Karl ist mir leider nicht bekannt.

Die ledigen Brüder Albert und Gustav Bär

Eine Detail-Aufnahme der beiden Geschwister Albert (links) und Louis Bär,
die im Mai 1939 entstanden ist. Da man das Wohnhaus Albert Bärs in der
Pogromnacht zerstört und niedergebrannt hat, zieht er zu seinem Bruder
Louis in die heutige Mittelstraße.

Der am 27. Dezember 1887 geborene Albert Bär hat das Handwerk seines Vaters Aron im bescheidenen Maße fortgeführt. Er arbeitet als Schächter, kauft bei den Bauern Puderbachs und der umliegenden Dörfer Ziegen, schlachtet sie und vertreibt das Fleisch und vermutlich auch die Ziegenfelle. Nebenbei führt er eine Schusterwerkstatt, verkauft und repariert Schuhwerk. Mit ihm lebt der am 8. April 1884 geborene Bruder Gustav im Haus. Er kommt körperlich und leicht geistig behindert zur Welt, ist zeitlebens kleinwüchsig.

In den 1930er Jahren wird diese Aufnahme vom „Heims Gustav“ entstanden sein. Er hat sich ganz schick gemacht mit Anzug, Mantel und Hut.

Kein anderer jüdischer Einwohner Puderbachs war meinen Großeltern und deren Generation so lebhaft in Erinnerung wie er. Sicherlich hing das mit seiner Behinderung zusammen.

Toleranz und Demütigung

Das Verhältnis der Dorfbewohner zu ihm ist nur schwer zu beschreiben und in so vieler Hinsicht ambivalent. Er selbst scheint ganz selbstbewußt mit seiner Beeinträchtigung umgegangen zu sein. Er besucht die Nachbarn auf ihren Höfen, nimmt als Anwohner an Hochzeitsfeiern teil, kehrt in den Gastwirtschaften ein, wird zum Maskottchen des hiesigen Fussballclubs ernannt. Aus den Erzählungen der Menschen, die ihn noch selbst kennengelernt hatten, klang sowohl Akzeptanz, sehr häufig aber auch Hohn und Spott, bei damals kleinen Kindern auch Angst. Geschichten, daß man ihm einen abgeschnittenen Sauschwanz anhängte (für gläubige Juden sind Schweine unreine Tiere und dürfen nicht verzehrt werden), daß er auf seinen Rücken gelegt wurde und sich aus dieser Position auf Grund seiner Behinderung nicht selbst befreien konnte, daß man ihm sogar Waffengewalt androhte, sind schwer zu ertragende, aber leider geschehene Tatsachen. Durch seine Behinderung einerseits und seine jüdische Konfession andererseits kam es zu einer doppelten Stigmatisierung.

Gustav Bär aufgenommen in den 1930er Jahren.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 hat sich für die jüdischen Mitbürger Puderbachs schlagartig alles verändert. Die gesetzlichen Verbote, beruflichen Ausschlüsse und diffamierenden Schikanen prasseln in den nächsten Jahren ungehemmt auf sie ein. 1936 kommt es zu folgendem antisemitischen Vorfall.

Umgestürzte Grabsteine

Unbekannte haben drei Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof Puderbachs umgeworfen und höchstwahrscheinlich beschädigt. Einige Mitglieder der Synagogen-Gemeinde sind aufgebracht und diskutieren hinter vorgehaltener Hand nach dem Gottesdienstbesuch. Dies kommt dem ansässigen Polizeihauptwachtmeister Gustav Bay zu Ohren. Er greift sich den arglosen Gustav Bär und lädt ihn wegen falscher Anschuldigung zur Vernehmung vor. In dem amtlichen Schreiben aus seiner Hand heißt es:

„Es wird hier in Puderbach von hiesigen Juden das Gerücht verbreitet, auf dem jüdischen Friedhof in Puderbach wären Grabmäler umgeworfen. Eine Besichtigung des Friedhofs ergab aber einwandfrei, daß die Grabmäler vom Wind oder sonstigen Erschütterungen umgefallen sein müssen. Irgendwelche Spuren, daß die Steine von unbefugter Menschenhand umgeworfen wurden, konnten nicht festgestellt werden. Es waren noch mehrere Grabmäler auf dem Friedhof, wo die Steine ohne Mörtel zwischen den Fugen so wackelig aufeinander standen, daß sie bei der kleinsten Erschütterung umfallen mußten.“

Heilanstalt Waldbröl

Ich kann leider nur mutmaßen, aus welchen Gründen Gustav Bär von seiner Familie getrennt und in die über 40 km entfernte Heil- und Pflegeanstalt Waldbröl verbracht wird, möglicherweise im Zuge der sogenannten Aktion Arbeitsscheu Reich im Jahr 1938. Meine Großmutter konnte sich an den Zeitpunkt sehr genau erinnern. Gustav war wie so häufig bei seinen Nachbarn den „Sannersch“ zu Besuch, als er vom Ortspolizisten Grundmann abgeholt, auf einen offenen Pritschenwagen verladen und abtransportiert wird. Laut den Recherchen von Herrn Manfred Faust hat man ihn im Anschluß in das Heil- und Pflegeheim Waldruhe in der Gemeinde Wiehl verlegt, da die Anstalt Walbröl im Oktober 1938 von der DAF (Deutschen Arbeitsfront) übernommen und in ein Hotel umgewandelt wird. 700 Patienten verteilt man in andere Einrichtungen, viele fallen dem NS-Euthanasieprogramm zum Opfer. Gustav Bär stirbt am 14. Januar 1940 unter bisher ungeklärten Umständen und wird auf dem jüdischen Friedhof Nümbrecht beerdigt.

Pogrom 1938

Am 10. November 1938 kommt es auf Grund der Ermordung des Legationssekretärs Ernst von Rath in der deutschen Botschaft in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan zu heftigsten Ausschreitungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. An anderer Stelle möchte ich ausführlich auf dieses für mich unbegreifliche Ereignis eingehen. Hier sei angeführt, daß das Haus der beiden Brüder von einem Mob aus Parteianhängern und zerstörungswütigen Dorfbewohnern durchwühlt, geplündert und demoliert wird. Im Anschluß steckt man das Gebäude in Anwesenheit zahlreicher Schaulustiger in Brand.

Köln Engelbertstraße 23

Obdach- und mittellos zieht Albert zu seinem Bruder Louis Bär in die heutige Mittelstraße. Auch hier hat der Pöbel in der Pogromnacht gewütet und die Geschäftseinrichtung und das Mobiliar zerschlagen. Am 18. September 1939 verzieht Albert Bär nach Köln in die Engelbertstraße 23. Das dort befindliche Wohnhaus dient spätestens ab 1941 als sogenanntes Juden- oder Ghettohaus. In solchen Gebäuden werden jüdische Mieter und Untermieter zwangsweise eingewiesen. Der Umzug dient den NS-Machthabern als erste Stufe der Konzentration vor der Deportierung in Ghettos und Mordlager im Osten.

Ghetto Lodz

Am 30.10.1941 dann deportiert man ihn und 1005 weitere jüdische Mitbürger im sogenannten zweiten Transport von Köln ins Ghetto Lodz/Litzmannstadt (Polen). Die unmenschlichen Zustände in dem im Frühjahr 1940 mit Stacheldraht abgezäunten Stadtteil zu beschreiben, ist kaum möglich. Dieser Bereich der Stadt verfügte über kein fließendes Wasser und keinen elektrischen Strom, er ist mit über 164.000 zwangsumgesiedelten Menschen völlig überfüllt und die Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Medikamenten ist gänzlich unzureichend. Rund ein Viertel der Ghettobewohner verhungern oder sterben an Infektionskrankheiten.

Vernichtungslager Kulmhof

Laut dem NS-Dokumentationszentrum in Köln wird Albert Bär am 3. Mai 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Die aus dem Ghetto Lodz mit dem Zug ankommenden Deportierten verbringt man nach ihrer Ankunft mit Lastkraftwagen in das ehemalige Schloßgelände. Dort müßen sie sich ausziehen und werden über eine Rampe zu je 100 Personen in die sogenannten Gaswagen getrieben, in die die Abgase des Lastwagens geleitet werden. Die Menschen ersticken innerhalb von 10 qualvollen Minuten. Im Anschluß fährt das Fahrzeug in einen nahegelegenen Wald und man verscharrt die Leichen in einem Massengrab.

Links:

Aktuelle Fotoausstellung im Centre Pompidou in Paris über den Fotografen August Sander u.a. mit einer Aufnahme Gustav Bärs

https://www.centrepompidou.fr/en/ressources/oeuvre/cpGLd5

Aktion „Arbeitsscheu Reich“

https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_%E2%80%9EArbeitsscheu_Reich%E2%80%9C

Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Waldbröl

https://www.waldbroel.de/project/ehemalige-heil-und-pflegeanstalt/

Über das Juden- bzw. Ghettohaus

https://de.wikipedia.org/wiki/Judenhaus

NS-Dokumentationszentrum Köln über den Verbleib Albert Bärs

https://museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum/default.aspx?sfrom=1217&s=2460&id=385&suchtext=%20puderbach&nachname=&inklVarianten=&abschiebung=&vorname=&inhaftierung=&geburtsname=&emigration=&geburtsort=1&deportation=&deportation1=&geburtsdatum=&deportationsdatum=&letzterOrt=&todesort=

Auszug der Deportationsliste vom 30.10.1941 von Köln nach Litzmannstadt

https://www.statistik-des-holocaust.de/OT411030-6.jpg

Ghetto Litzmannstadt/Lodz

https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Litzmannstadt

Vernichtungslager Kulmhof

https://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtungslager_Kulmhof

Familie Louis Bär

1907 verschickte das „Heims Toni“ diese Postkarte an ihre Freundin Klara Jonas nach Raubach. Zu sehen ist unten das Wohn- und Geschäftshaus des Bruders Louis Bär. Steht da der Ladenbesitzer vielleicht selbst vor seiner Eingangstüre?

Der am 23. November 1878 in Puderbach geborene Louis Bär führt in seinem um 1900 errichteten Wohnhaus auf der heutigen Mittelstraße ein gut sortiertes Eisenwarengeschäft. Er bietet seinen Kunden aber auch Kohlen, Baumaterialien und Haushaltswaren an. Sogar Anglerbedarf ist in seinem Sortiment zu finden, da er selbst gerne am Holzbach fischen geht. Die Kinder kaufen sich hier am Ende des Jahres die Knaller für die Silvesternacht. Seine Frau ist die aus Gelsdorf bei Bad Neuenahr stammende Thekla Vos.

Die Tochter Irene
Die Tochter Irene Bär vermutlich aufgenommen um 1920. Das „Mefferts Hilde“ konnte sich entsinnen, daß sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Elli nur zu gerne mit Irene spielte, denn das Mädchen besaß damals schon richtige Brettspiele wie „Mensch ärgere Dich nicht“.

Am 30. Juli 1912 kommt die gemeinsame Tochter Irene Silva zur Welt. Das Mädchen besucht wie alle Dorfkinder ab dem sechsten Lebensjahr die Volksschule. Der jüdische Religionsunterricht findet bereits seit 1909 Mittwochs und Sonntags von 1 bis 3 Uhr Nachmittags im Schulsaal der 1. Klasse statt. Im Jahr 1911 sind es 12 Kinder, die vermutlich von dem Lehrer Adolf Ginsberg aus Dierdorf in den Lehren des Alten Testaments unterwiesen werden.

Nervliche Erkankung

Wann genau sich die nervliche Erkrankung bei der Tochter einstellt und um welche es sich gehandelt hat, ist nicht bekannt. Die Allgemeinmedizinerin Renate Hennemann, deren Vater schon behandelnder Arzt in Puderbach war, konnte sich erinnern, daß Irene „Anfälle“ hatte, plötzlich verwirrt und völlig aufgelöst an der Tür des Doktors um Hilfe bat. Vermutlich litt sie an Depressionen oder Angstzuständen, die medikamentös behandelt werden mußten. Welcher psychischen Belastung gerade sie in den Jahren unter nationalsozialistischer Herrschaft und speziell in der Reichspogromnacht ausgesetzt gewesen sein muß, kann man leicht erahnen.

Judenboykott

Auch in Puderbach kommt es am 1. April 1933 zum sogenannten Judenboykott. Vor den Geschäften der jüdischen Mitbürger Puderbachs postieren sich SA-Leute bzw. treue Parteianhänger und hindern die Dorfbewohner daran, ihre Besorgungen bei den Volksfeinden zu erledigen. Haben Sie bei der Familie Bär auch die Fenster mit ihren Parolen beschmiert, wie man es immer wieder auf Bildern aus dieser Zeit sieht?

10. November 1938

Schon am späten Abend des 9. November wurde der damalige NSDAP-Ortsgruppenleiter Piorek darüber informiert, daß auf Grund der Ermordung des Pariser Botschaftssekretärs Ernst von Rath Vergeltungsaktionen an den jüdischen Mitbürgern verübt werden sollten. Am folgenden Morgen trommelt er alle NS-Parteimitglieder früh um 8 Uhr im Gasthof Kasche zusammen, um die Aktion zu besprechen. Um 9 Uhr schlagen die Trupps unter Mithilfe der Dorfbevölkerung los.

Zunächst werden alle Männer unter 60 Jahren in sogenannte Schutzhaft genommen und in das Gerichtsgefängnis nach Neuwied verbracht. So wird vermutlich auch Louis Bär, der erst in zwei Wochen seinen 60sten Geburtstag feiern wird, in das Gefängnis eingeliefert. Zurück bleiben die älteren Männer, Frauen und Kinder, die zusehen müssen, wie die NS-Mannschaften mit Unterstützung der Dorfbevölkerung in ihre Häuser eindringen und alles kurz und klein schlagen. Auch beim „Heims Louis“ verwüsten sie sowohl die Geschäfts- als auch Wohnräume. Bei der Aktion fehlt es zudem nicht an Langfingern, die Wertgegenstände oder auch Schuldscheine verschwinden lassen.

Später lässt Bürgermeister Günther die im Dorf verbliebenen jüdischen Bürger zum eigenen Schutz (!) ins Amtsgebäude und im Anschluß ins Wohnhaus des Leopold Aron einquartieren. Dort verbringen sie in Sorge um ihre verschleppten Männer eine schlaflose Nacht. Erst am nächsten Morgen dürfen sie ihre Häuser wieder betreten. Der Anblick muß auch für Thekla und Irene Bär ein Schock gewesen sein! Irgendwann am Nachmittag trifft auch Louis in Puderbach ein. Er wurde ebenfalls am Morgen aus dem Gefängnis in Neuwied entlassen und mußte den Heimweg zu Fuß antreten.

Nichts wie weg
Diese Aufnahme entstand im Mai 1939 am hinteren Eingang des Wohnhauses von Louis Bär. Von links nach rechts sieht man Albert Bär, Louis Bär, Josef Wolff, Kurt Bär und Adolf Aron. Was haben die Männer bis zum Entstehen dieses Schnappschußes schon alles erleben müssen. In der „Pogromnacht“ hat man Albert Bärs Geburtshaus angezündet, Louis Bärs Wohn- und Geschäftsräume demoliert und Josef Wolff wurde ins KZ Dachau verbracht. Wie es Adolf Aron gelungen ist, eine Thorarolle aus der Synagoge vor der Zerstörung zu retten, ist mir schier unbegreiflich.

Spätestens seit den traumatischen Erfahrungen der Pogromnacht, werden sich auch die Bärs bemüht haben, Deutschland auf schnellstem Wege zu verlassen. Sie beantragen bei der Amtsverwaltung Reisepässe zwecks Ausreise in die USA, führen im selben Schreiben aber an, daß eine Auswanderung vermutlich aus finanziellen Gründen noch nicht in Frage kommt.

Hausverkauf

Schon im Frühjahr 1938 hatten die Bärs erste Grundstücke verkauft. Im Dezember erfolgt die Veräußerung des Hauses an die ansässige Raiffeisenkasse. Der Grund dafür wird die für den 3. Dezember 1938 erlassene Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens sein, die jüdische Geschäftsleute zwingt, ihre Gewerbebetriebe und ihren Grundbesitz zu veräußern. Der Verkauf läuft über den damaligen Kassenleiter Wilhelm Haag ab. Wie spätere Unterlagen beweisen, müssen die Bärs ihr Haus nicht unter Wert verkaufen. Bis zum 5. März 1941 darf die dreiköpfige Familie in ihrem früheren Eigenheim wohnen bleiben und wird sich mit den Erlösen aus dem Verkauf über Wasser halten. Für die Flucht ins Ausland reichen die Reserven nicht mehr aus.

Bad Neuenahr

Vermutlich weil sie die Wohnung in ihrem früheren Haus räumen müssen, ziehen die Bärs am 5. März 1941 zu Verwandten nach Bad Neuenahr in die Poststraße 10. Hier lebt der Bruder von Thekla Bär, Ludwig Vos, dem es im September 1941 noch gelingt, über Spanien in die USA auszureisen. Vielleicht keimt auch bei Louis, Thekla und Irene noch einmal Hoffnung auf, Deutschland mit Hilfe des Bruders verlassen zu können.

Evakuierung

Anfang April 1942 erhalten die Bärs ein amtliches Informationsschreiben, daß sie sich auf Grund einer Evakuierung (!) am 25. April 1942 für den Abtransport bereit halten müssen. Nur bestimmte Gepäckstücke und Gegenstände dürfen mitgeführt werden, vor allem Verpflegung für mehrere Tage, noch vorhandene Geldmittel und Wertgegenstände sollen erfasst und separat verpackt bereit gehalten werden. Mit welcher großen Ungewissheit und Sorge werden sie die letzten Tage in Bad Neuenahr verbracht haben?

Burg Brohleck

Insgesamt 91 Personen aus Bad Neuenahr, Heimersheim, Sinzig und Remagen werden mit dem Zug in das rund eine Stunde entfernte Brohl gebracht. Hier haben die Behörden ein Sammellager auf der Burg Brohleck eingerichtet. Wie Zeitzeugen berichten, versuchen Polizeibeamte an den Bahnhöfen in Sinzig und Remagen Kinder von ihren Eltern zu trennen, was zu erschütternden Szenen führt.

Deportation nach Krasniczyn

Kurze Zeit nach Ankunft in Brohl erfolgt die entgültige Deportation aus Deutschland. Am 30. April setzt sich der Sonderzug Da 9 mit 762 jüdischen Bürgern, unter ihnen die Bärs, vom Bahnhof Koblenz-Lützel Richtung Osten in Bewegung. Drei lange Tage dauert die Fahrt ins Ungewisse. Am 3. Mai stoppt der Zug in der im Südosten Polens gelegenen Stadt Krasnystaw. Man treibt die Menschen aus dem Zug und zwingt sie, einen 17 km langen Fußmarsch in das Dorf Krasniczyn zurückzulegen. Das hatten die Nazis schon 1940 zu einem Ghetto für Juden umgewandelt. Einige Tage zuvor war bereits ein Transport mit 955 Menschen aus Würzburg eingetroffen.

Man kann sich die Verhältnisse an diesem Ort kaum ausmalen. Die Häuser verfügen über kein fließendes Wasser, keine Toiletten und keinen Strom. Eine Versorgung mit Lebensmitteln oder Medikamenten war nicht vorgesehen, sodass die Menschen nach kürzester Zeit Hunger litten. In einem beschlagnahmten Brief eines Würzburgers heißt es: „Wir bitten sehr darum, uns Lebensmittelpakete zu schicken…Wir bitten um Suppenkonzentrat und Suppenwürfel in kleinen Paketen. Wir sind auch dankbar für Käse.“

Vernichtung

Bereits im Mai, kurze Zeit nach Ankunft der beiden Transporte, werden 327 Personen wahllos von SS-Männern aufgegriffen, nach dem Fußmarsch zum Bahnhof Krasnystaw in Viehwaggons getrieben und in das rund 76 km entfernte Vernichtungslager Belzec gebracht. Dort angekommen werden sie mit Motorabgasen aus Dieselmotoren erstickt. Am 6. Juni dann wird das Ghetto Krasniczyn ganz aufgelöst. 200 Menschen erschießt die SS vor Ort auf dem bestehenden Friedhof. Alle anderen werden zu Fuß ins 18 km entfernte Izbica gehetzt, in Waggons verfrachtet und ins Tötungslager Sobibor gebracht. Dort angekommen, zwingt man sie, sich auszuziehen und treibt sie in die Duschräume um sie dort durch Motorabgase umzubringen.

Links:

Judenboykott vom 1. April 1933

https://de.wikipedia.org/wiki/Judenboykott

Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens

https://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_%C3%BCber_den_Einsatz_des_j%C3%BCdischen_Verm%C3%B6gens#:~:text=In%20der%20Verordnung%20%C3%BCber%20den,bei%20einer%20Devisenbank%20zu%20hinterlegen.

Auszug aus der Deportationsliste vom 30. April 1942 von Koblenz ins Lager Krasniczyn mit den Namen von Louis, Thekla und Irene Bär

https://www.statistik-des-holocaust.de/OT420430_Koblenz4.jpg

Durchgangsghetto Krasniczyn

https://web25.otto.kundenserver42.de/Mahnmal_NEU/index.php/staetten-der-verfolgung/staetten-der-verfolgung-generalgouvernements/541-durchgangsghetto-krasniczyn

Vernichtungslager Belzec

https://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtungslager_Belzec

Vernichtungslager Sobibor

https://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtungslager_Sobibor

Stolpersteine für Louis Bär und seine Familie

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bad_Neuenahr-Ahrweiler

Die Familie Berthold Bär

1890 bringt Rosa Bär geb. Wolf ihr 5. Kind zur Welt. Es ist ein Junge und er erhält den Namen Berthold. Er wird nach seiner Schulzeit bei seinem Vater Aron in die Lehre gehen und das Metzgerhandwerk erlernen.

Vermutlich durch seine Schwägerin Thekla Bär geb. Vos, die gebürtig aus Gelsdorf in der Eifel stammt, lernt Berthold die am 4. Juni 1886 geborene Selma Gottschalk kennen. Sie ist eine der fünf Töchter des in Königsfeld lebenden Ehepaars Bernhard und Rosetta Gottschalk. Um 1913 findet die Hochzeit statt und die beiden errichten neben der Eisenwarenhandlung des Bruders bzw. Schwagers Louis Bär ein Wohnhaus mit Metzgerei und Ladengeschäft.

Kurzes Familienglück

Am 2. Februar 1914 kommt hier die gemeinsame Tochter Ilse zur Welt. Dss Familienglück scheint perfekt. Doch am 28. Juli ruft Kaiser Wilhelm II. die deutschen Männer zu den Waffen. Deutschland hat als Bündnispartner Österreichs zunächst Serbien, dann am 1. August dem Verbündeten Russland und am 3. August Frankreich den Krieg erklärt. Berthold wird ebenso wie sein Bruder Karl an die französische Front verlegt.

Vermutlich Anfang August 1914 entsteht diese Atelieraufnahme von Selma und Berthold Bär. Liebevoll hält sich das Paar in den Armen. Er trägt bereits die feldgraue Uniform für den Kriegseinsatz an der französischen Front.
Todesnachicht

Im Herbst 1914 erreicht die in anderen Umständen befindliche Selma die schmerzhafte Nachicht, daß ihr Mann Berthold am 26. September mit gerade mal 25 Jahren gefallen ist. Die Trauer wird groß gewesen sein. Und es stellen sich drängende Fragen. Wie soll es jetzt weitergehen? Wer sorgt jetzt für den Lebensunterhalt? Neben der Tochter Ilse und dem ungeborenen Nachwuchs müßen auch ihre jüngeren Schwestern Johanna und Emma Gottschalk, die seit dem Tod der Eltern mit im Haus an der heutigen Mittelstraße wohnen, ernährt werden.

Die 1896 in Königsfeld in der Eifel geborene Johanna Gottschalk. Nach dem Tod der Eltern zieht sie zu ihrer Schwester Selma Bär nach Puderbach. Sie stirbt am 18. Februar 1936 und wird als eine der letzten Personen auf dem jüdischen Friedhof im Mühlendorf beerdigt.
Modistin

Ob sie den Beruf der Hutmacherin, auch Modistin genannt, bereits vor ihrer Ehe erlernt hat, oder erst nach dem Tod des geliebten Mannes ergreift, ist mir nicht bekannt. Mit ihren Kreationen für die Dame und den Herrn schafft sie es, sich, die beiden Kinder Ilse und Kurt (er wurde am 5. April 1915 geboren) und ihre Schwestern über die Runden zu bringen.

Eine Aufnahme, die um 1919 entstanden sein wird und Selma Bär mit ihren beiden herzigen Kindern Ilse und Kurt zeigt. Die Familie trägt den Rufnamen „Bertholds“ nach dem Vornamen des verstorbenen Ehemanns und Vaters.
Die Sternfelds

Um 1920 zieht dann auch die Schwester Hedwig Gottschalk verheiratete Sternfeld mit ihrem Mann Hermann, er stammt gebürtig aus Neuwied am Rhein, in das Wohnhaus in der Mittelstraße. Das Paar eröffnet im noch freien Teil des Ladenlokals der Metzgerei ein Schuhgeschäft nebst Reparaturwerkstatt. Die Qualität des Schuhwerks ist so herausragend gut, daß die Dorfbewohner flux ein Lied dichten, in dem es heißt: „Der beste Schuh, der ewig hält, den kauft man bei dem Sternefeld“. 1922 kommt die gemeinsame Tochter Ruth in Puderbach zur Welt.

Ganz rechts sieht man hier den Schuster Hermann Sternfeld. Er sitzt mit anderen Puderbachern auf der Restaurant-Terasse des Gasthof Kasche. Die beiden jungen Mädchen in der Bildmitte sind Helene und Erika Velden, die Töchter des „Kasches Grit“, die den Gästen das kühle Bier serviert haben. Desweiteren erkennt man links den Eisenwarenhändler Louis Bär, neben ihm den blutjungen Karl Oettgen und dann den Ortspolizisten Gustav Bay. Wer könnten die anderen Personen sein?
Vermietet

1928 siedelt die Schwester Hedwig mit ihrem Mann und der Tochter Ruth nach Duisburg ins Ruhrgebiet über. Doch das Geschäft bleibt nicht lange leer stehen. Der aus Urbach stammende H. Hoffmann zieht mit seinem Friseursalon in die Geschäftsräume des Hauses. Zunächst verläuft das Zusammenleben mit dem neuen Mieter friedlich.

Jahre der Drangsalierungen

Doch Hoffmann tritt der NSDAP bei und wird spätestens mit der Machtergreifung 1933 der Witwe und den Kindern Jahre der Drangsalierungen und des Kummers bescheren. Hedwig Sternfeld, die zusammen mit ihrer Familie Deutschland rechtzeitig Richtung Australien verlassen kann, berichtet 1946 in einem Brief von folgender Begebenheit. Im Oktober 1938 besucht sie das letzte Mal ihre Schwester in Puderbach. Selma hatte gerade beim Bauern Born eine Fuhre Kartoffeln bestellt. Er versorgt die Familie schon seit vielen Jahren mit seinen Produkten. Eben will er die Ware der Witwe Bär ins Haus schaffen, da kommt der Friseur Hoffmann aus seinem Salon heraus und beschimpft und bedroht den ahnungslosen Landwirt, daß er Juden nichts verkaufen und erst recht nicht liefern dürfe. Er gibt solange keine Ruhe, bis Born unverrichteter Dinge von dannen zieht. Nur durch eine heimliche Absprache, die Kartoffelsäcke werden an einem bestimmten Ort abgestellt und dort vom Schwager Louis Bär und dem Ladenbesitzer Hermann Wolff abgeholt, kommt sie doch noch zu ihrer Ware.

Hedwig Sternfeld schreibt weiter:

„Was wird der Schuft der armen Frau noch in all den Jahren für Aufregungen und Schikanen gemacht haben. Aber die Abrechnung kommt für ihn! Wir werden nicht Ruhe geben und alle Anstrengungen nicht scheuen, um eine Abrechnung im weitgehenstem Masse zu treffen, es kann kosten, was es will.“

Kurt Bär aufgenommen 1937. Wie durch ein Wunder gelingt ihm 1940 über die Niederlande die Emigration in die USA. Nach Kriegsende dringt er auf Restitution des zwangsweise veräußerten Hauses. Er wird bis zu seinem Tod nie wieder deutschen Boden betreten.
Novemberpogrom 1938

Nach einer vorigen Lagebesprechung im Gasthof Kasche ziehen unter der Leitung des NS-Ortsgruppenleiters Hans Piorek die Parteimitglieder und willige Helfer marodierend und brandschatzend durch das Dorf. Gegen neun Uhr früh stellt sich die Lage aus der Sicht eines Augenzeugen, selbst Mitglied in der NSDAP und angehalten, an den Zerstörungen teilzunehmen, wie folgt dar:

„…Darauf sagte er (Piorek), von den oberen Stellen ist befohlen worden, den Juden alles kurz und klein zu schlagen, weil dieselben einen Deutschen ermordet hätten. Ich sollte den anderen nachgehen und sollte mich beteiligen. Ich sagte zu ihm, das kann ich nicht und tue es auch nicht, denn das ist doch Wahnsinn und die Polizei wird dem schon anhelfen, die solches machen. Piorek erklärte darauf, die Polizei weiß davon und hat nichts zu sagen. Im übrigen solle ich den Mund halten und das machen, was er befohlen hätte…

Ich ging den Weg zurück, nach Hause zu, und kam an dem Geschäft H. Wolff vorbei und sah dort, wie das Schaufenster zersplitterte und hörte, wie es im Hause drin krachte und Sachen umhergeschmissen wurden…

Ich ging auf die Straße zurück und hörte die Leute sagen, auch beim Louis Bär hätte man alles zerschlagen. Von hieraus ging ich zu dem nebenstehenden Haus, dort wohnte eine Frau Witwe Bär. Wie ich da in den Hof kam, war dort im Augenblick noch alles ruhig. Ich dachte, hier kannst du vielleicht helfen und einschreiten, daß hier nichts unternommen wird, und habe dieses auch tatkräftig gemacht.

Ich ging die hintere Treppe rauf zur Küche hin, machte die Türe auf und sah dort die Frau Bär mit ihrer Tochter sitzen (Kurt war bereits mit den anderen Männer unter 60 Jahren verhaftet und nach Neuwied verbracht worden). Beide waren am Weinen. Wie sie mich sahen, sprangen beide auf und kamen auf mich zu, klammerten sich an mich fest und baten mich, ich möchte ihnen doch helfen. Was denn eigentlich los wäre und warum man denn alles entzwei schlüge. Ich sagte den beiden Frauen, ich wäre hierhergekommen, um ihnen zu helfen und beizustehen und denen entgegentreten wolle, die hier versuchen sollten, einzudringen, um alles zu demolieren…

Kurze Zeit darauf kam Piorek und noch Verschiedene ins Haus und fragten mich, als sie sahen, daß hier noch alles in Ordnung war, warum ich seinen Befehlen nicht Folge geleistet und ich an der Aktion nicht teilgenommen hätte?…Bei dieser (verbalen) Auseinandersetzung war eine andere Person hereingekommen und hatte zu Piorek etwas gesagt, was weiß ich nicht mehr. Er brach die Auseinandersetzung kurz ab und sagte zu seinen Begleitern etwas, und sie gingen wieder heraus…Wie ich später hörte sind Piorek und noch andere von der Witwe Bär aus nach dem Hause des Albert Bär gezogen. Kurze Zeit später soll auch das Haus in Flammen aufgegangen sein. Zurück zu dem Hause der Witwe Bär kam er nicht mehr…“

Piorek und vier seiner Helfer werden stattdessen das Zerstörungswerk in den benachbarten Ortschaften Urbach, Rodenbach und Daufenbach fortsetzen.

Daß das Mobiliar der Witwe Bär verschont bleibt, ist sicherlich nicht nur der beherzten Hilfe eines einzelnen Puderbachers zu verdanken. Vielmehr kann man davon ausgehen, daß Friseur H. Hoffmann, der ein Auge auf die Immobilie seiner Vermieterin geworfen hat, aus eigennützigem Interesse seine Parteifreunde von einer Zerstörung abhält.

Auswandern

Die Kinder Selmas werden sich nach den Geschehnissen am 10. November 1938 bemüht haben, Deutschland auf schnellsten Wege zu verlassen. Bereits zwei Wochen vor der Kristallnacht hat Ilse in einen Antrag um die Ausstellung eines Reisepasses zwecks Auswanderung ersucht. 1940 gelingt es dann Kurt über die Niederlande in die USA zu emigrieren. In Amerika angekommen wird er alles möglich versucht haben, um seiner kranken Mutter, sie leidet an Gallenproblemen, und der Schwester die Ausreise zu ermöglichen.

Hausverkauf

Am 2. Juli 1940 sieht sich auch Selma Bär gezwungen, ihr Wohn- und Geschäftshaus an ihren früheren Mieter Hermann Hoffmann zu verkaufen, vermutlich unter Wert. Da immer mehr jüdische Bewohner Puderbach verlassen, macht sich auch die Witwe mit ihrer Tochter Ilse auf den Weg und zieht nach Köln. Vermutlich im Salierring 11 (dies ist die letzte Anschrift von Ilse) finden die beiden ein neues Zuhause. Hier in der Anonymität der Großstadt hoffen sie auf ein ruhigeres Leben, zumal viele Freunde und Verwandte ebenfalls nach hier verzogen sind.

Ein Blick auf den Salierring in Köln, die letzte Anschrift von Ilse und vermutlich auch die ihrer Mutter Selma.
Hochzeit

Leider ist mir nicht bekannt, wie Ilse den 1905 in Köln geborenen Paul Schay kennengelernt hat. Oder treffen die beiden erst nach dem Umzug der Bärs am 17. August 1940 in der Metropole am Rhein aufeinander?

Vermutlich kurz vor ihrer Hochzeit im Jahr 1940 entsteht diese Aufnahme Ilse Bärs und ihres Angetrauten Paul Schay.

Laut der Liste der Stolpersteine für den Kölner Stadtteil Neustadt-Nord wird Paul am 6. November 1905 in Köln geboren. Seine Eltern sind Arthur und Sara Schay geb. Salomon. Während seiner Schulzeit besucht er das Gymnasium in der Kreuzgasse. Auch er bemüht sich, aus Nazi-Deutschland auszuwandern und nimmt aus diesem Grund an einer „Haschara“ teil, einer landwirtschaftlichen, handwerklichen sowie sprachlichen Ausbildung, die junge Männer und Frauen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet.

Am Sonntag den 18. August 1940 findet die Hochzeit der beiden in Anwesenheit von Verwandten und Freunden statt. Da alle sieben Synagogen Kölns bei den Novemberpogromen 1938 zerstört wurden, findet die Trauung vermutlich in der Wohnung im Salierring 11 statt.

Diese Foto berührt mich zutiefst. Einer der wenigen glücklichen Momente, die Hochzeit von Ilse Bär und Paul Schay am 18. August 1940, wird hier auf diesem Schnappschuß festgehalten. Das Paar, die Verwandten und Freunde scheinen glücklich. Doch meint man die Anspannung und den Kummer der vergangenen Jahre, die von Verboten, Ausgrenzung und Entrechtung geprägt waren, immer noch zu spüren. In der Mitte sieht man das Brautpaar Paul und Ilse Schay geb. Bär. Die mir bekannten Personen sind wie folgt durchnummeriert: 1 der aus Altenkirchen stammende Hugo Abraham, 2 seine Frau Edith Abraham geb. Menkel, 3 die im August 1939 nach Köln verzogene Thekla Aron geb. Tannenwald, 4 ihr Mann Adolf Aron, 5 die in Burgbrohl geborene Klara Cahn geb. Friesem, eine Anverwandte Ilses über die Tante Thekla Bär geb. Vos, 6 die durch Krankheit und Kummer stark gealterte Selma Bär und 7 Albert Bär, der Onkel der Braut. Auch er lebt bereits seit 1939 in der Engelbertstraße 23 in Köln, im selben Haus wie das Ehepaar Adolf und Thekla Aron. Klara Cahn geb. Friesem wird im Oktober 1941 nach Litzmannstadt deportiert und im Vernichtungslager Kulmhof umgebracht. Hugo und Edith Abraham deportiert man im Dezember 1941 nach Riga, wo sich ihre Spur verliert. Und was geschah mit den Hochzeitsgästen, die auf dieser Fotografie zu sehen sind, deren Namen wir aber nicht kennen?
Deportation

Vermutlich am 6. Dezember 1941, einen Tag vor der eigentlichen Deportation, erreicht Ilse und Paul, sowie Pauls Mutter Sara Schay ein Schreiben, daß sie sich für den nächsten Tag bereit halten sollen zwecks Evakuierung. Sie dürfen pro Person einen Koffer mit einem Maximalgewicht von 50 kg mitführen, sowie Essgeschirr und Verpflegung für mehrere Tage. Wertgegenstände, Sparkassenbücher, Bargeld o.ä. müssen aufgeführt und gesondert verpackt werden. Sie werden später von Beamten konfisziert.

Sie ahnen noch nicht, daß sie am nächsten Tag in das 1500 km entfernte Riga verschleppt werden. Nach der deutschen Eroberung Lettlands im Juli 1942 kommt es dort bereits zu brutalen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung. 6000 Menschen werden zum Teil durch lettische Nationalisten umgebracht. Dann im August wird in Riga ein Ghetto eingerichtet, in dem 30.000 lettische Juden zusammengepfercht werden.

Währenddessen hat Hitler auf Drängen Heydrichs und Goebbels die Deportation der jüdischen Bevölkerung Deutschlands beschlossen. Um Platz zu schaffen, wird das Rigaer Ghetto liquidiert. Am 30. November und am 8. und 9. Dezember 1941 werden 27.500 lettische Juden in zuvor ausgehobenen Gruben in den nahen Wäldern von Rumbula erschossen.

Am 10. Dezember 1941 kommt der Kölner Transport, der aus 977 Menschen besteht, in dem verkleinerten Rigaer Ghetto an. „Es lagen noch Essensreste auf dem Tisch und die Öfen waren noch warm.“ So berichtet ein Zeitzeuge nach der Ankunft.

Hier verliert sich die Spur von Paul und Ilse Schay geb. Bär. Welche Greuel die beiden noch erleben mußten, mag man sich lieber nicht ausmalen. Nach Ende des Krieges werden die beiden für tot erklärt.

Poliklinik Köln-Ehrenfeld

Vielleicht ahnen Selma Bär und die Tochter Ilse, daß es diesmal ein Abschied für immer sein wird. Die Mutter leidet unter Gallenblasenkrebs und wird zum Zeitpunkt der Deportation der Tochter und des Schwiegersohns bereits in die Poliklinik des jüdischen Wohlfahrtszentrums in der Ottostraße im Kölner Stadtteil Neuehrenfeld eingeliefert worden sein. Am 29. Januar 1942 verstirbt sie im Klinikum mit gerade mal 55 Jahren. Ihre Kinder oder andere Verwandte können ihr in dieser letzten Stunde nicht zur Seite stehen.

Zwangsversteigerung

Rund ein halbes Jahr später, am 8. August 1942, wendet sich die hiesige Gemeindeverwaltung an das Finanzamt Neuwied. In dem Schreiben heißt es:

„Die am 29.01.42 in Köln-Ehrenfeld verstorbene Jüdin Selma Bär geb. Gottschalk hat hier im Raum Puderbach, Bismarckstraße 15, Möbel udgl. hinterlassen. Frau Bär war Witwe. Da sich Erben nicht mehr im Reichsgebiet aufhalten, bitte ich, baldmöglichst über die Sachen zu verfügen evtl. zu versteigern, damit die Wohnung frei wird. Der Hauseigentümer Hoffmann aus Puderbach hat noch Forderungen für rückständige Miete ab Februar 1942 in Höhe von monatl. 27 RM.“

Es folgt eine Auflistung des Mobiliars der Wohnung. Hedwig Sternfeld beschreibt in einem Brief von 1946, welche sehr persönlichen Familienerbstücke sich noch im Haus befunden haben müssen. Sie schreibt:

„…waren außer den Sachen meiner Schwester an Wäsche von unserem Elternhaus und Ilses Aussteuer enorme Vorräte vorhanden. Ein 72 teiliges Ess-Service, Kaffee-Service, eine Schabbes-Lampe, eine Zinnschüssel mit jüdisch-gravierten Schrift-Silber, große Vorräte von wertvollen Handarbeiten aller Art. Da all diese Sachen aus alten Familienbesitz sind, liegen sie mir besonders am Herzen.“

Hier das Orginal-Schriftstück der Bürgermeisterei Puderbach. Nüchtern und sachlich werden die Gegenstände aufgezählt, die in der Wohnung verblieben sind. Erst durch das Schreiben von Selma Bärs Schwester Hedwig Sternfeld wird deutlich, daß sich unter dem Hausrat auch sehr persönliche und wertvolle Objekte befunden haben.

Die komplette Wohnungseinrichtung sowie alle geliebten Familienerbstücke werden vermutlich Ende 1942 an die ansässigen Dorfbewohner versteigert. Den eingenommenen Geldbetrag, abzüglich der noch ausstehenden Mietrückstände (welch eine Niedertracht von Hoffmann!) streichen die Nationalsozialistischen Machthaber ein.

Links:

Liste der Stolpersteine des Kölner Stadtteils Neustadt-Nord / Stolperstein für Paul Schay an seiner früheren Schule

https://dewiki.de/Lexikon/Liste_der_Stolpersteine_im_K%c3%b6lner_Stadtteil_Neustadt-Nord

NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln / Eintrag Ilse Schay geb. Bär

https://museenkoeln.de/NS-DOKUMENTATIONSZENTRUM/default.aspx?sfrom=1214&s=2460&id=10047&buchstabe=S

Auszug aus der Deportationsliste vom 7. Dezember 1941 von Köln nach Riga mit den Namen von Paul und Ilse Schay geb. Bär

https://www.statistik-des-holocaust.de/OT411207_36.jpg

Ghetto Riga

https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Riga

Yad Vashem / Zeitzeugenbericht über die Deportation und die Zustände im Ghetto Riga von Hilde Schermann

Jüdisches Wohlfahrtszentrum mit der Poliklinik, in der Selma Bär 1942 verstirbt:

https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdisches_Wohlfahrtszentrum

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